Unaufhaltsam, unbeweglich
Anfangs habe ich mich aus akademischer Distanz mit dem Israel-Palästina Konflikt beschäftigt und mich gewundert, warum die logisch anmutende Zweistaatenlösung nicht längst umgesetzt wurde. Dann habe ich in beiden Gesellschaften gelebt und realisiert, dass man sie nie umsetzen kann. Wer im Elfenbeinturm sitzt, sollte nicht mit Lösungen um sich werfen.
Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ist ein Elend ohne Ende in Sicht. Die Ansprüche und Ansichten beider Seiten über Land und Geschichte sind völlig unvereinbar und die Gesellschaften durch Terror und Besatzung zunehmend fundamental und unversöhnlich. Seit der Taufe der Zweistaatenlösung vor 30 Jahren hat sich Israels Position gewandelt, jene der Palästinenser jedoch einzementiert. Die Friedens-Logik von damals funktioniert heute also nicht mehr und die Zweistaatenlösung – oder überhaupt irgendeine Lösung – scheint unerreichbar geworden. Dieser neue, brutale Krieg in Nahost ist daher der Zusammenprall einer unaufhaltsamen Kraft mit einem unbeweglichen Objekt.
Jene Barbarei gegen israelische Zivilisten, die diesen Krieg in Gang gesetzt hat, war ein Zivilisationsbruch und ist auch nicht zu verstehen als die Entladung angestauten Hasses nach Jahren der Einpferchung in Gaza. Doch auch wenn die Wucht und Zerstörungswut zutiefst schockieren, darf die Explosion an sich nicht überraschen. Die relative Ruhe im Heiligen Land war oberflächlich, die Missstände waren dafür tiefgreifend. Das galt für den Gazastreifen und gilt für das Westjordanland, wo der nächste Flächenbrand – eine Intifada – nur eine falsche Handlung, eine Tragödie oder eine böse Absicht von einem Ausbruch entfernt ist. Der Konflikt ist nicht zuletzt deshalb so unvorhersehbar und perspektivenlos wie schon lange nicht mehr.
Auch die Ausmaße sind neu. Seit dem Holocaust wurden nicht mehr so viele Juden an einem Tag verschleppt und ermordet wie am 7. Oktober 2023, und auch der Gegenschlag Israels fordert bereits Tod und Leid in bisher nicht erlebtem Umfang. Selbst wenn es Israel gelingen sollte, die Hamas zu zerstören, wird deren Gedankengut überleben und die Auseinandersetzungen werden weitergehen. Israel kann sich mit diesem Krieg nur Zeit kaufen und Rache üben. Es ist der Konflikt mit den Palästinensern und deren Kampf für einen eigenen Staat, dem alles zugrunde liegt.
Solange es dafür keine Lösung gibt, durch die beide Gesellschaften miteinander in Frieden leben können, wird der jetzige Krieg nur ein weiterer in einer endlosen Serie von Kriegen sein. In Gaza nach 2008/2009, 2012, 2014, und 2021 nun eben wieder im Jahr 2023. Und auch die Geschichte des Westjordanlandes wird seit der Eroberung durch Israel vor 66 Jahren von konstantem Konflikt begleitet: Dem Jom-Kippur-Krieg 1973, der ersten Intifada von 1987 bis 1993, der zweiten von 2000 bis 2005, sowie zahlreichen namenlosen Auseinandersetzungen davor, dazwischen und danach. Es spricht alles dafür und nichts dagegen, dass der Konflikt auch dort bald eskalieren und der Rhythmus dem Takt folgen wird.
Und es dreht sich weiter
Die Spirale aus Aktion und Reaktion, Angriff und Vergeltung, Anklage und Rechtfertigung, zieht also weiter ihre Kreise, ebenso wie die Diskussionen darüber, wer denn eigentlich die Schuld an diesem oder jenem Ereignis oder überhaupt am Konflikt selbst trägt. Der Glaube an eine solche Schuld, eine Ur-Sünde, also dass eine Seite den ersten Stein geworfen und eine Spirale damit in Gang gesetzt hat, ist allgegenwärtig. Der PR-Krieg, geführt von Sympathisanten in aller Welt, ist ein Kampf um Deutungshoheit, der keinen Platz für nuancierten Dialog oder gegenseitiges Verständnis lässt.
Obgleich emotional nachvollziehbar, ist diese Front des Konflikts jedoch völlig sinn- und ziellos und steht einer Zweistaatenlösung diametral im Weg. Jeder Friedensprozess wäre den radikalen und kompromisslosen Kräfte ausgeliefert, die es auf beiden Seiten zweifellos gibt. Selbst wenn man die praktischen Herausforderungen der Zweistaatenlösung umfassend bewältigen könnte – die Grenzen im Westjordanland, der Status von Jerusalem, die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge – müssten solche Verhandlungen von Jahren der Kooperation und einer Deeskalation begleitet werden. Wieder bräuchte es nur eine falsche Handlung, eine Tragödie oder eine böse Absicht, um so einem Prozess ein jähes Ende zu bereiten. Die Friedensbemühungen der 1990er wurden genau so zur Strecke gebracht: Provokationen, Attentate, Anschläge, Regierungswechsel. Allein die Geografie macht ein Aneinandergeraten unvermeidlich. 14 Millionen Israelis und Palästinenser streiten um ein Gebiet, das gerade mal einem Viertel der Fläche Österreichs entspricht. Ein echter Friede braucht mehr als nur ein unterschriebenes Abkommen.
Alte Prinzipien, neue Umstände
Kann es dann jemals Frieden geben zwischen Israelis und Palästinensern? Und wenn ja, wie? Tom Segev, einer von Israels bekanntesten Historikern, antwortete nach den Hamas-Angriffen mit „Ich sehe es nicht. Ich weiß es nicht“ und spricht damit allen aus der Seele, die diesen Konflikt in seiner ganzen Breite reflektieren.
Die Zweistaatenlösung scheint jedenfalls tot. Einst war sie der vielversprechende Plan eines Friedensschlusses, der alle ausstehenden Dispute klären sollte: Einen 1:1 Austausch von umstrittenem Land, ein geteiltes Jerusalem, Kompensation für palästinensische Flüchtlinge, und natürlich, dass eine Gruppe hier (Israel) und die andere eben dort (Gaza und Westjordanland) beten, arbeiten, und regieren würde. Eine solch umfassende Einigung gilt seit damals als Bedingung für einen echten Frieden.
Was theoretisch logisch klingt, zumindest für die emotional Unbetroffenen, war praktisch schon immer schwierig und ist mittlerweile quasi unmöglich. Im Westjordanland leben neben den 2,5 Millionen Palästinenser inzwischen auch fast 700.000 israelische Siedler, die nun jenes Land beanspruchen, das eigentlich der palästinensische Staat hätte werden sollen. Deren Zuwachs war aufgrund der siedlerfreundlichen Regierung in Israel zuletzt stark steigend. Doch gleich in welche Richtung der Wählerwille zukünftig auch ausschlägt: Es ist kaum vorstellbar, dass Israel der Zwangsevakuierung so vieler Landsleute, oder auch nur eines Bruchteils davon, jemals zustimmen würde. Eine solche Umsiedlung wäre aber notwendig, um die Erwartungen der Palästinenser an einen eigenen Staat zu erfüllen.
Doch Regierung und Haltung können sich ändern, vor allem nach kollektiven, traumatischen Ereignissen. Aber selbst nach einem Wind of Change bliebe immer noch Israels breitgetragener, kompromiss- und zeitloser Anspruch auf Sicherheit; ein Wunsch, der gerade angesichts jüngster Ereignisse ebenso nachvollziehbar ist wie jener der Palästinenser nach Staatlichkeit. Palästinas diffuse Innenpolitik, zum Beispiel, stellt für Israel ein großes Sicherheitsrisiko dar: Das Regime von Präsident Abbas – 87 Jahre, zuletzt gewählt 2005, Nachfolger unbekannt – ist genauso korrupt wie unbeliebt und bietet Fundamentalisten einen entsprechend großen Nährboden. In möglichen Verhandlungen würde Israel daher auf weitreichende polizeiliche Befugnisse innerhalb eines Palästinenserstaates beharren und palästinensische Lande als Sicherheitszonen für sich reklamieren. Dadurch wäre dieses Palästina wenig mehr als ein Fleckerlteppich mit beschränkter Kontrolle nur über einzelne Städte und Dörfer. Kein Staat also, wie ihn sich die Palästinenser erträumen.
Israels Ansprüche sind in den vergangenen drei Jahrzehnten also gewachsen und das Land hat diese neue Verhandlungsposition mit einer immerzu wachsenden wirtschaftlichen, wie militärischen Übermacht untermauert. Die Palästinenser haben Israel heute noch weniger entgegenzusetzen als vor 30 Jahren. Das einzig wirklich potente, gewaltfreie Mittel, mit dem Israel beeinflusst werden kann, ist internationaler Druck, doch auch hier hat sich das Kräfteverhältnis verändert. Einige arabische Länder haben den Jüdischen Staat inzwischen anerkannt und weitere würden gerne folgen; welche Staaten das sind und wann genau das passiert, hängt nun vom weiteren Kriegsverlauf ab. Durch diese Anerkennungen hätte Israel in Verhandlungen zwar auch mehr zu verlieren – eine Rücknahme wäre ein herber Verlust – aber viele arabische Staaten sind weit mehr daran interessiert, mit dem Start-Up Land Israel Handel zu treiben als alte Konflikte auszutragen. Es ist also auch der Generationswechsel im Nahen Osten, der Palästina unter Druck setzt. Dass die Entscheidung der Hamas, jetzt und nicht später loszuschlagen, von den vielversprechenden Verhandlungen zwischen Israel und Saudi-Arabien ausgelöst wurde, ist sehr wahrscheinlich.
(K)ein Silberstreif am Horizont
Die Hoffnungen der 1990er-Jahre wurden also bitter enttäuscht, vor allem auf palästinensischer Seite. Doch das Vermächtnis der damaligen Friedensverhandlungen ist, dass sie den Grundstein für alle weiteren nach ihr gelegt haben. Die Ansätze von damals schafften zwar eine Verhandlungsbasis, doch zementierten sie auch Ansprüche ein, die heute kaum mehr realistisch sind. Israels politisches Kalkül hat sich verändert; die Bedingungen der Zweistaatenlösung erscheinen heute vielen als benachteiligend. Das Bekenntnis zur Zweistaatenlösung ist dort also wenig mehr als eine diplomatische Floskel. In Palästina ist das hingegen anders. Würde heute ergebnisoffen verhandelt, wären die israelischen Zusagen von damals vermutlich nicht mehr durchzusetzen. Auf der Zweistaatenlösung zu beharren ist daher auch eine strategische Notwendigkeit Palästinas.
Wie geht es also weiter? Der erwähnte Historiker Tom Segev hat auch gesagt: „Vielleicht kommt irgendwann ein großes tektonisches Ereignis von biblischem Ausmaß, das irgendwie dazu führt, dass die Menschen neu denken.“ Der Überfall der Hamas könnte sich als solch ein Erdbeben erweisen. Die Zukunft des Gazastreifens wäre nach einer israelischen Besatzung weit offen und Israel weder willens noch fähig, das entstandene Macht-Vakuum zu füllen. Es bestünde jedoch die Chance, mit einer breiten internationalen Koalition – EU, UNO, Arabische Liga, vor allem Nachbarn wie Ägypten, Jordanien, und Saudi-Arabien – den Gazastreifen zu befrieden und beim Wiederaufbau zu unterstützen. Ein solch partieller Friedensansatz durch die internationale Gemeinschaft an Stelle einer umfassenden Zweistaatenlösung wäre jedenfalls ein völlig neues Kapitel in der langen Geschichte dieses Konflikts. Ein solches Szenario ist momentan aber noch wenig mehr als ein Gedankenspiel – und eine versucht fröhliche Botschaft zum Schluss.
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