Dennis Vetter

Geboren 1994 in Lustenau, hat Internationale Beziehungen mit einem Fokus auf Arabische Sprache, Kultur, und Politik studiert. Nach beinahe zehn Jahren außerhalb Vorarlbergs, die Hälfte davon im Ausland, arbeitet er nun als Referent für die Industriellenvereinigung (IV) Vorarlberg, wo er sich mit wirtschaftlichen und politischen Trends beschäftigt.

Unvorstellbar, aber unausweichlich

Mai 2022

Es sind verrückte Zeiten, in denen wir leben. Angefangen hat alles im Frühjahr 2020. Ein neuartiges Virus verseucht die Welt und zwingt sie zu einem Stillstand. Die Fassungslosigkeit angesichts der schieren Absurdität der ganzen Situation war beinahe grenzenlos. Wer konnte sich das vorstellen?
Zwei Jahre später verkündet das Donnern von Bomben und Granaten dann die nächste Zäsur: Russische Truppen überschreiten die Grenze zur Ukraine – und Putin den Rubikon. Der erste Angriffskrieg in Europa seit Ende des zweiten Weltkrieges hatte begonnen, mitsamt Massakern an der Zivilbevölkerung, totaler Zerstörung ganzer Städte, und einer Propaganda, die an Hohn und Häme kaum zu überbieten ist. Wer konnte sich das vorstellen?
Wintermonate 2022/2023: Aufgrund einer toxischen Mischung aus leeren Gasspeichern (wegen eines europaweiten Gas-Embargos gegen Russland), unzuverlässiger Stromquellen (mehr Sonne und Wind in Folge der grünen Transformation), und einem außergewöhnlich kaltem Winter kommt es irgendwo in Südost-Europa zu einer Überlastung des Stromnetzes. Eine Kettenreaktion kommt in Gang, an deren Ende in Millionen europäischer Haushalte plötzlich das Licht ausgeht. Die ungeplante Stromausfallsdauer in Österreich im Jahr 2020 betrug im Schnitt gerade mal 27 Minuten, aber dieser „Blackout“ dauert Stunden, Tage, vielleicht sogar Wochen. Anfangs amüsieren sich manche noch ob dieser Zwangspause vom Leben, doch die meisten versuchen sich über das Autoradio auf dem Laufenden zu halten. Einige folgen den Anordnungen und bleiben zuhause, um abzuwarten, bei anderen jedoch macht sich Panik breit. Supermärkte, Banken, Apotheken – alles hat geschlossen; die öffentliche Versorgung ist zusammengebrochen. Nur die wenigsten Leute horten Vorräte für mehr als drei Tage. Polizei und Militär sind weder imstande, diese Menschen zu versorgen, noch die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Nach einigen Tagen schließlich erfrieren die Ersten in ihren Wohnungen. Nach einer Woche herrscht Anarchie. Kann man sich das vorstellen?
Wahrscheinlich nicht. Aber genauso „unvorstellbar“ waren „anno dazumal“ Lockdowns und Angriffskriege in Europa. Was nach einer Floskel klingt, ist aber tatsächlich ein Versagen der Vorstellungskraft. Die Wissenschaft, genauer gesagt die Geologie, bezeichnet das als Uniformitarismus. Diese Denkrichtung besagt, dass sich Veränderungen – beispielsweise die Entstehung neuer Landschaften – nicht plötzlich durch Kataklysmen, sondern nur langsam über eine lange Zeit ergeben. Umgelegt auf die Sozialwissenschaft bedeutet Uniformitarismus also, dass wir in unserer Wahrnehmung von Veränderung von schleichenden Prozessen ausgehen und die Möglichkeit abrupter Änderungen vernachlässigen. Man muss kein Komplexitätsforscher sein, um zu erkennen, dass eine solche Geisteshaltung der gesellschaftlichen Vorbereitung auf Krieg, Krankheit und sonstige Krisen nicht zuträglich ist. 
Es ist schwer nachzuvollziehen, wie sich frühere Generationen nach Paradigmenwechseln dieser Art gefühlt haben. Aber nach Jahrzehnten des Friedens und der Prosperität erscheint es logisch, dass sich die moderne Gesellschaft ungleich schwerer damit tut, sich neuen Rahmenbedingungen anzupassen. Unser System fußt auf Interdependenz, wurde angetrieben durch Globalisierung und ist somit auf Schönwetter angewiesen, um zu florieren und gar zu funktionieren. Dabei kommt uns der Uniformitarismus entgegen, denn er verleitet dazu, die Augen zu verschließen und weiterzumachen wie bisher. Wird schon alles gutgehen! Wenn ein System aber auf der Annahme basiert, alle Schwäne seien weiß, bedeutet die Ankunft eines schwarzen Schwans die Aushebelung dieses Systems. Und auch wenn sie selten sind, irgendwann kommt immer ein schwarzer Schwan dahergeschwommen – ob in Form einer neuen Krankheit, eines machthungrigen Despoten oder eben einer üblen Mischung unglücklicher Umstände. 

In unserer Wahrnehmung von Veränderung vernachläs­sigen wir die Möglichkeit abrupter Änderungen.

Freilich umgeben viele Gefahren den Menschen und seine Welt. Naturkatastrophen aller Art gehören seit jeher zu den größten, wenn auch meist regional begrenzten Bedrohungen. Aber auch globale Verheerungen sind möglich, und dabei muss man nicht zurück zum Asteroiden, der die Dinosaurier ausgelöscht hat. Jüngste Forschungen zeigen, dass mehrere kleine Einschläge vor in etwa 13.000 Jahren globale Fluten ausgelöst haben. Die Eruption des Krakatau 1883, in geringerem Maße auch des Eyjafjallajökull im Jahr 2010, haben Teile der Erde verdunkelt, Ernten vernichtet und in letzterem Falle den globalen Flugverkehr eingeschränkt. Dass diese Ausbrüche nicht mehr Schaden angerichtet haben, ist purer Zufall. Das nächste Mal haben wir vielleicht nicht so viel Glück. Oder das übernächste Mal. Das Einzige, was uns vor einem solchen Ereignis trennt, sind Zeit und Zweckoptimismus. 
Wenn man von jenen Umweltkata­strophen, die vom menschengemachten Klimawandel immer öfter ausgelöst werden, absieht, kann man die Bedrohungen durch Mutter Natur durchaus mit ein wenig Fatalismus abtun. Wenn die Erde bebt, dann bebt sie eben, was kann man schon dagegen tun? Doch gibt es auch genügend hausgemachte Gefahren, denen man keinesfalls mit solch einer Einstellung begegnen darf. Zum Beispiel würde ein einzelnes, zentimetergroßes Teilchen Weltraumschrott, von denen es abertausende gibt und die mit atemberaubender Geschwindigkeit um die Erde fliegen, schon ausreichen, um eine Kettenreaktion auszulösen und einen Satelliten nach dem anderen vom Himmel – genauer gesagt aus der Erdumlaufbahn – zu holen. Kessler-Effekt nennt sich dieses Szenario, und bereits jetzt muss die Internationale Raumstation regelmäßig Ausweichmanöver fliegen, um solchen Objekten auszuweichen. Wenn also schon ein einzelnes, querstehendes Schiff im Suez-Kanal die Versorgungssicherheit Europas gefährden kann, welche Auswirkungen hätte dann der Zusammenbruch unseres Satellitensystems?
Viele mögen glauben, dass die moderne Welt besser für solche Katastrophen gerüstet wäre. Technologisch sind wir das auch, aber gerade darin liegt auch das Problem: Unser Verlass auf Technologie, deren ständiger Funktionalität und Verfügbarkeit, macht unser System zum anfälligsten – und uns moderne Menschen zu den abhängigsten – in der Geschichte. 
In der Hierarchie technologischer Katastrophenszenarien steht der eingangs beschriebene Blackout an oberster Stelle. Ein flächendeckender, langanhaltender „Blackout“ – im Gegensatz zu einem regional und zeitlich begrenzten „Stromausfall“ – hätte tatsächlich apokalyptisches Potenzial. Ein Blackout bedeutet nämlich nicht nur keinen Strom, sondern in weiterer Folge eben auch einen kompletten Zusammenbruch des modernen Lebens, schließlich ist so ziemlich alles in unserer Gesellschaft an der einen oder anderen Stelle auf einen elektrischen Impuls angewiesen, der einen Schalter betätigt, eine Luke öffnet, im gegebenen Fall einen Alarm auslöst, etwas leitet, lenkt, schaltet, und waltet. 
Dazu muss man wissen, dass das österreichische als Teil des europäischen Stromnetzes mit dem gesamten Kontinent verbunden ist. Mit unzähligen Ein- und Ausfließpunkten hält sich dieses in ständiger Balance – einer Frequenz von 50 Hertz. Gespeist durch Kraftwerke aller Art muss diese Frequenz gehalten werden, sonst sprüht, bildlich gesprochen, irgendwo ein Funke, der eine Kettenreaktion auslöst und potenziell Millionen den Strom abdreht. Trotz der guten Infrastruktur in Österreich wären wir einer regionalen Überlastung in anderen Teilen Europas dennoch fast hilflos ausgeliefert. Solche Überlastungen und somit auch Interventionen von Netzwerkbetreibern werden immer häufiger; der letzte große Störfall ereignete sich am 8. Januar 2021 in Rumänien. Die Transformation weg von fossilen hin zu grünen Energien verkompliziert die Sache noch mehr, schließlich sind Wind und Sonne weit weniger verlässliche Stromlieferanten als Gas oder Kohle. Der Konflikt mit Russland und die nun stark gefährdete Gas-Versorgung verleihen dem Problem eine zusätzliche Dimension. 
Mit dem Aufbau autarker Energieinseln durch Militär und Polizei zeigt Österreich ein in Europa vorbildliches Bewusstsein gegenüber dieser Bedrohung. Im Ernstfall wäre es aber eine Illusion anzunehmen, dass öffentliche Institutionen auch nur ansatzweise in der Lage wären, knapp neun Millionen Menschen zu versorgen und die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. 
Das klingt alles unvorstellbar dramatisch. Doch sollte man sich hier wieder des Uniformitarismus besinnen: Unverhofft kommt oft, und gewaltige Einzel­ereignisse höhlen den Stein genauso wie der stete Tropfen. Selbst die geringste Wahrscheinlichkeit rechtfertigt Aufmerksamkeit und Vorbereitung angesichts der wahrlich fatalen Konsequenzen, die ein europaweiter Blackout auf uns alle hätte. Gesundheitsexpert:innen haben schon immer gewarnt, eine neue Pandemie sei keine Frage des „ob“ sondern nur des „wann“. Ebenso haben diverse Geheimdienste im Zuge des russischen Aufmarsches im Februar darauf beharrt, dass niemand so viele Blutkonserven für eine Übung brauche. Nun warnen uns Sicherheits- und Energieexpert:innen vor einem Blackout. Nehmen wir sie ernst. Dann kann zumindest niemand sagen: Wer konnte sich das vorstellen?

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