Peter Melichar

Historiker „vorarlberg museum“

Wie der Vorlberger Wunsch, zur Schweiz zu kommen, Österreich bedrohte

September 2022

Über die Vorarlberger Anschlussbewegung an die Schweiz aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wurde an dieser Stelle bereits berichtet, aber nur bis zu jener Abstimmung im Mai 1919, bei der sich über 80 Prozent der Stimmberechtigten für die Aufnahme von Verhandlungen über einen Beitritt Vorarlbergs zur Schweizer Eidgenossenschaft aussprachen (vgl. Peter Melichar, Zur Schweiz! Ein Vorarlberger Wunschtraum, der nicht in Erfüllung gehen konnte, April 2019, Nr. 44, 44-45). Damit endete die erste Phase in der Geschichte dieser Anschlussbewegung. Deren zweite Phase dauerte vom Mai 1919 bis zum Jahreswechsel 1919/20, als durch eine Note des Obersten Rates in Paris der Anschluss Vorarlbergs an die Schweiz verworfen wurde. Die dritte Phase wird in der nächsten Ausgabe von „Thema Vorarlberg“ behandelt.

Das Ergebnis der Abstimmung sah auf den ersten Blick wie ein großer Erfolg der Anschlussbefürworter aus. Doch der Vorarlberger Politiker mit der größten Erfahrung, Jodok Fink, der gerade seit einigen Wochen Vizekanzler in einer vom Sozialdemokraten Karl Renner geführten Koalitionsregierung war, hielt den Beitritt Vor­arlbergs zur Eidgenossenschaft für ein „totgeborenes Kind“. Er sollte recht behalten, aber warum? 
Schon zwei Tage nach der Abstimmung, am 13. Mai 1919 reiste Landeshauptmann Otto Ender als Mitglied der österreichischen Verhandlungsdelegation nach Paris, wo die Friedensverträge verhandelt werden sollten. Seine Hoffnung, bei den Verhandlungen die Situation des Landes Vorarlberg und den Standpunkt der Landesregierung erklären zu können, wurde enttäuscht. Die österreichische Delegation wurde zu den eigentlichen Verhandlungen gar nicht zugelassen und konnte nichts anderes tun als Warten. Ender musste schon froh sein, dass Bundeskanzler Renner ihn nach einer Eingabe am 22. Mai empfing und er für die Mitglieder der österreichischen Delegation einen Vortrag über Vorarlberg, die Verhältnisse im Land und die Anschlussbestrebungen halten durfte. Wiederum acht Tage später, am 30. Mai, reiste Ender, nach einer neuerlichen Audienz bei Renner, enttäuscht wieder nach Hause. Zwei Tage später wurde die österreichische Delegation mit dem ersten Entwurf des Friedensvertrages konfrontiert, demnach sollte Österreich alle deutschsprachigen Randgebiete an die Nachfolgestaaten abtreten, vor allem das gesamte vorwiegend deutschsprachige Südböhmen und Südmähren, Südtirol, Südkärnten und die Südsteiermark. Die Friedensbedingungen machen, so Renner in einer Antwort an Clemenceau, „Deutschösterreich zu einem lebensunfähigen Gebilde“.
In Verhandlungen mit dem Schweizer Bundesrat Felix Calonder erfuhr Ender am 10. Juni 1919, dass aus der Sicht der Schweiz vor jedem weiteren Schritt die österreichische Regierung das Selbstbestimmungsrecht Vorarlbergs anerkennen müsse. Von der Staatskanzlei in Wien erhielt die Landesregierung am 26. Juni eine sehr ausweichende Antwort, man könnte auch sagen, eine Abfuhr. Die „Frage der staatlichen Zugehörigkeit Vorarlbergs“ müsse nicht vor Vertragsabschlusse entschieden werden. „Die Aufwerfung der Vorarlberger Frage in St. Germain würde die ohnehin sehr schwierigen Verhandlungen noch weiter komplizieren, den Verträgen mit jenem ganzen Komplex schwieriger wirtschaftlicher, staatsfinanzieller und rechtlicher Fragen, die im Falle der Trennung Vorarlbergs von Deutschösterreich entschieden werden müssten, belasten und dadurch eine Verlängerung der Verhandlungen erfordern, die weder den Entente-Mächten, die auf möglichst schnellen Abschluss ungeduldig drängen, noch Deutschösterreich, dessen Volk den Eintritt geregelter Verhältnisse dringend braucht, erwünscht sein kann.“ Eine Regelung, so wurde der Vor­arlberger Landesregierung beschieden, sei später noch durchaus möglich.
Daraufhin fanden am 10. August 1919, einem Sonntag, in ganz Vorarlberg Versammlungen und Demonstrationen statt. Zahlreiche Redner, darunter viele Politiker und Aktivisten, informierten und diskutierten. Das Vorarlberger Volksblatt berichtete tagelang über dieses Großereignis. Und die Landesregierung richtete an den Schweizer Bundesrat am 15. August ein Schreiben, in dem von der Beunruhigung „sehr weiter Kreise des Vorarlberger Volkes“ die Rede war. Verursacht werde das durch die Weigerung der deutsch-österreichischen Regierung, „das Selbstbestimmungsrecht Vorarlbergs nicht nur stillschweigend, sondern auch ausdrücklich anzuerkennen und die Anschlussfrage auf der Friedenskonferenz zur Sprache zu bringen.“ Das Volk von Vorarlberg aber beharre „auf seinem Selbstbestimmungsrechte und wünscht unbedingt, dass seine Sache auf der Friedenskonferenz zur Sprache komme.“
Der Staatsvertrag von St. Germain musste von Staatskanzler Renner jedenfalls Anfang September unterzeichnet werden, am 17. Oktober wurde er vom österreichischen Nationalrat ratifiziert. Währenddessen waren die Vorarlberger Anschlussbemühungen und ihre Probleme in der Schweiz nicht unbemerkt geblieben. Im Juli 1919 hatte der Arzt und Kantonsrat von St. Gallen, Ulrich Vetsch, ein Aktionskomitee „Pro Vorarlberg“ gegründet, das sich mit zahlreichen Resolutionen und Flugblattaktionen an die Öffentlichkeit wandte. Die Vorarlberger Anschlussbewegung hatte in der Schweiz eine stattliche Zahl von Befürwortern, aber auch eine große Zahl von Gegnern. Genaue Untersuchungen dazu gibt es nicht. Eine Abstimmung, die gefordert wurde, fand auch nie statt. Ungefähr 29.000 Schweizer unterstützten den Anschluss Vorarlbergs im Rahmen einer Unterschriftenaktion, was zuweilen als Beleg gewertet wurde, dass die Anschlussfreunde eine „unbedeutende Minderheit“ gewesen seien (Kantonsgeschichte von St. Gallen, Bd. 7, S. 61). Die „Vorarlberger Frage“ wurde jedenfalls zu einem innenpolitischen Thema in der Schweiz: Zwei Interpellationen wurden Mitte November 1919 kurz hintereinander an den Bundesrat gerichtet, unter anderem wurde gefragt, was der Bundesrat in Sachen Vorarlberg schon getan habe und was „noch geschehen werde, um der Bevölkerung von Vorarlberg in ihrer derzeitigen Notlage Hilfe zu leisten“, wollte außerdem „über die Auffassung und die Absichten des Bundesrates über die Bestrebungen des Landes Vorarlberg zum Anschluß an die Schweiz“ Aufschluss erhalten. Beinahe zeitgleich erreichte Felix Calonder am 14. November 1919 im Bundesrat den Beschluss, dass die Schweiz sich „in keiner Weise in die inneren Verhältnisse zwischen dem Vorarl­berg und Österreich“ einmische. Falls aber die Loslösung Vorarlbergs von Österreich in Frage kommen sollte, würde der Bundesrat auf Wunsch Vorarlbergs „mit ganzer Kraft dessen Bestrebungen zur Verwirklichung seines Selbstbestimmungsrechtes, sei es beim Völkerbund, sei es bei der Pariser Konferenz, unterstützen.“
Am 5. Dezember 1919 kam es zu einer großen Debatte im Vorarlberger Landtag, wo noch einmal mit der christlich-sozialen Mehrheit beschlossen wurde, ein weiteres Mal von der Staatsregierung die Anerkennung zu verlangen. Doch wenige Tage später wurde wiederum bekannt, dass Staatskanzler Karl Renner nach Paris reisen würde, um persönlich dem Obersten Rat die Problematik, insbesondere die wirtschaftliche Problematik Österreichs vorzutragen. Renner wurde auf dieser Reise von zahlreichen Gerüchten begleitet, denn beinahe gleichzeitig beschäftigte sich der Oberste Rat mit Österreich und der Vorarlberger Frage. Die Renner – angeblich noch vor den Verhandlungen – übergebene Note nahm Bezug auf „gewisse Agitationen“, die die „Integrität der österreichischen Republik“ bedrohten und verkündete, dass die alliierten und assoziierten Mächte „sich jedem Versuch, der die territoriale Unversehrtheit Österreichs, oder (…) in irgend einer Art (…) die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit Österreich gefährden könnte, entgegenstellen.“ 
Vor allem das Vorarlberger Volksblatt, das zum Organ der Anschlussfreunde geworden war, kommentierte die Note und ihr Zustandekommen mit der Formulierung, das Vorarlberger Volk empfinde es als „schwere, böse Vergewaltigung, daß ihm der eigene Entscheid verwehrt wurde.“ (Vor­arlberger Volksblatt, 20.12.1919). Landeshauptmann Otto Ender reagierte auf die „offizielle Verständigung“ durch die Staatskanzlei am 3. Jänner 1920 mit sehr bitteren Worten. Er kritisierte die Argumentation der Note und wies den Vergleich mit anderen Anschlussbewegungen in Tirol und Salzburg zurück. Und er brachte klar zum Ausdruck, man sei in Vorarlberg der Überzeugung, „dass die österreichische Regierung dafür gesorgt habe, dass die erwünschte Note des Herrn Präsidenten Clemenceau erscheine.“ Ender wies in seinem Schreiben an Renner auf die wiederholten Zusagen Renners hin, einer Verhandlung der „Vorarlberger Frage“ nach dem Friedensschluss nichts in den Weg zu legen und dem Obersten Rate oder Völkerbund ein entsprechendes Memorandum zu überreichen. „Ich kann daher“, schrieb Ender, „unserem Volke nicht zumuten, dass es jede Hoffnung fahren lasse. Ich kann ihm auch unmöglich in diesem Sinne zureden, weil das Beginnen nutzlos und daher unklug wäre. In den anderen Ländern mag das das beste sein; Sie sind uns durch die Erhebung Ihrer von vornherein aussichtslosen Forderung in den Rücken gefallen und haben der Staatsregierung einen Dienst erwiesen, der den gewünschten Erfolg hatte. Nun kann dort die Aktion natürlich ruhen.“ Er betrachte, damit beendete Ender sein Schreiben, die Schicksalsfrage nach wie als „offen“. Doch der Landeshauptmann wusste selbst, dass die Chance vorbei war. Aus seiner Reaktion gegenüber der Regierung in Wien, noch mehr aber aus einem Brief, den er an einen Schweizer Politiker schrieb, geht klar hervor, wie sehr er sich insgeheim – wenn er sich auch in der Öffentlichkeit lange als Unparteiischer inszenierte – mit dem Ziel der Anschlussbewegung identifiziert hatte. Im Februar 1920 schrieb er, er könne anhand eines juristischen Gutachtens des Völkerbundes erkennen, „wie ausserordentlich nahe wir seinerzeit gewesen sind und es hat nicht sein sollen.“
Wie auch immer die Note des Obersten Rates zustande gekommen sein mag: Von Staatskanzler Karl Renner und seiner Regierung war wohl kaum zu erwarten gewesen, dass sie die Loslösungsbestrebungen Vorarlbergs akzeptierten oder gar unterstützten. Es war ihr Geschäft, den Anschluss des westlichsten Bundeslandes an die Schweiz zu verhindern, um weitere Erosionserscheinungen und Anschlussbestrebungen (an Bayern, das Deutsche Reich, an Italien) und damit den Zerfall Österreichs zu verhindern.
Obwohl die Note des Obersten Rates im Dezember 1919 keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass die alliierten Siegermächte einen Anschluss Vorarl­bergs an die Schweiz nicht zulassen würden und überhaupt die Integrität Österreichs gewahrt wissen wollten, publizierte die Landesregierung im Herbst 1920 ein an den Völkerbund gerichtetes Memorandum. Noch einmal wurden alle kulturellen und wirtschaftlichen Argumente zusammengefasst, aber hinzugefügt: „Mächtiger noch sind Gründe höherer Ordnung, die mit diesen zusammenwirken. Das Vorarlberger Volk will eine wahre und dauerhafte Demokratie. Es will Ordnung in seinem öffentlichen Leben; es will sich wieder emporarbeiten durch Redlichkeit, Fleiß und Sparsamkeit; es beklagt aufs tiefste, daß die Regierung der Republik diese staatserhaltenden, kulturellen Güter zu wenig zu schützen und zu pflegen vermag. Das Vorarlberger Volk will leben und nicht zu Grunde gehen.“

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