Gerald A. Matt

Kunstmanager, Publizist und Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien

„Es hat mich, es hat Israel zutiefst erschüttert“

Juni 2024

Doron Rabinovici ist Schriftsteller und Historiker. Geboren in Tel Aviv 1961, lebt er seit 1964 in Wien und beschäftigt sich mit Fragen der jüdischen Identität, mit Verfolgung, mit Erinnerung, NS-Vergangenheit, Migration, Rechtsextremismus in Österreich. Gerald A. Matt führte mit dem engagierten Intellektuellen ein Gespräch.

Als Du vom mörderischen Überfall der Hamas-Terroristen vom 7.Oktober erfahren hast, was hast Du empfunden? 
Ich hatte keinen Begriff dafür, was da geschehen war. Da war von einem Pogrom die Rede, doch Pogrome werden nicht geplant und militärisch durchgeführt, sondern sind meistens Aufwallungen. Und es werden keine Geiseln genommen. Es ist aber auch kein Krieg, denn man hat ja nicht Krieg geführt, sondern man hat dort gezielt Zivilbevölkerung angegriffen, Frauen vergewaltigt, Kinder gefoltert, Leute zerstückelt. Auch der Bezug zur Shoa greift nicht, denn es war keine industrielle Massenvernichtung der Nazis, es war etwas ganz Eigenes, Abscheuliches. Es hat mich, es hat Israel zutiefst erschüttert. Und erschütternd war, dass keine Welle der Sympathie zu spüren war.

Es wurde gleich versucht, die Täter-Opferrolle umzukehren.
Israel hatte noch nicht einmal versucht, sein Territorium zu verteidigen und schon wurde ein Tag des Zorns aufgerufen und in Verkehrung, ja zynischer Verfälschung des Begriffes, Israel Genozid vorgeworfen. Und in Wien etwa sah man Leute tanzen vor Freude, beflaggte Autos über die Taborstraße fahren und Zuckerln verteilen. Da geht es um die ganze Existenz Israels, das heißt nicht nur der Staat Israel, sondern auch das Volk Israel, und zwar im biblischen Sinne.

Du hast Israel nach dem Terrorakt besucht. Wie hat sich das Land, wie hat sich die Stimmung in Israel verändert?
Also, als ich losfuhr im Dezember, war es hier so, als hätte für viele der 7. Oktober nicht stattgefunden. In Israel ist es genau umgekehrt. Der 7. Oktober ist allgegenwärtig. Wegen der unsäglichen Verbrechen, wegen des grauenhaften Schicksals der Geiseln, wegen des Raketenbeschusses. Dieser Tag dauert an. Man kommt an und sieht gleich beim Flughafen die Bilder der Geiseln und auf den Parkbänken Teddybären mit blutenden Wunden, deren Augen verbunden und deren Arme gefesselt sind. Von den 200.000 Binnenflüchtlingen konnten viele noch nicht zurückkehren in ihre Kibbuzim, in ihre Dörfer.

Das heißt, das Land ist jetzt ein anderes.
Ja, Das Land ist ein anderes.
Ist da auch ein kollektives Gefühl von Angst? Ist nach all den Siegen über die übermächtigen Nachbarn die Gewissheit: „Wir können bestehen“ ins Wanken geraten?
Ja. Was mir in Mark und Bein fuhr, war, betrogen worden zu sein. Der Staat reagierte stundenlang nicht. Man hatte das Gefühl, der ist nicht da. Und es geht seither auch darum, sich selbst zu versichern, wieder Herr der Lage zu sein. Die Nationalhymne Israels heißt „haTikwa“ und „haTikwa“ heißt Hoffnung. Das Land war das Symbol der Hoffnung nach Jahrhunderten von Pogromen, Vernichtung, Verfolgung. Und diese Hoffnung ist im Jahr 2023 zutiefst in Frage gestellt worden. Und das hat nicht nur mit dem 7. Oktober zu tun. Das Jahr 2023 war bis zum 7. Oktober auch geprägt durch die Demonstrationen gegen den Justizputsch einer rechten bis rechtsextremen Regierung, die an die Grundfesten der Demokratie geht, die die Besatzung aufrechterhalten möchte, die nicht an irgendeinen Kompromiss denkt. Und die die Hamas auch als weniger gefährlich ansieht als die palästinensische Administration, denn mit der könnte man vielleicht verhandeln. Und mit der Hamas gab es eine Modus Vivendi der Kompromisslosigkeit – und des Hasses.

Wohin geht Israel nach diesem Krieg? Mehr Demokratie oder mehr Autoritarismus? Eindämmung oder Ausbau der Siedlerpolitik? 
Es gab keine andere Option, als auf einen Raketenbeschuss und auf einen solchen Massenmord militärisch zu reagieren. Dass im Krieg auch Unschuldige sterben, ist unvermeidlich. Die Hamas an der Macht in Gaza zu lassen, die seit 20 Jahren Raketen auf Israel schießt und Terrorakte verübt, ist in Israel undenkbar. Einen 7. Oktober darf es nie wieder geben. Das ist das eine. Das andere ist, was wünsche ich mir? Ich wünsche mir ein Ziel und das Ziel ist ein territorialer Kompromiss. Und für mich wäre das Ziel ein palästinensischer Staat neben einem Staat Israel und eine gemeinsame Zukunft. Aber dagegen sind natürlich die Hamas und ebenso sehr die rechtsextremen Siedler, deren Opfer letztlich auch Rabin und seine Friedensinitiative wurde.

Im Unterschied zu den arabischen Staaten ist Israel eine Demokratie. Ist dies auch ein Stellvertreterkrieg unter dem Deckmantel postkolonialer Klischees gegen ein Weltbild, einen Lebensstil, eine liberale Gesellschaft, die quasi der Aufklärung verpflichtet ist?
Auf jeden Fall. Also für die Kräfte, die vom Iran inspiriert sind, ist Israel schon ein Sinnbild dessen, was sie an dem freien Westen, an der liberalen Demokratie hassen. Aber ohne Zweifel ist es auch der erste Krieg zwischen dem Iran und dem Westen. 

Wenn man an die antisemitischen Auswürfe und Anfeindungen in den USA und in Europa denkt, hat der Antisemitismus wieder Hochkonjunktur!
Wir haben einen Antisemitismus, der ist traditionell, das ist der rechte, das ist der rassistische. Aber der ist seit 1945 desavouiert. Wer heute Antisemit sein möchte, distanziert sich zuallererst davon, dass er irgendwas mit Auschwitz oder mit diesem traditionellen Antisemitismus zu tun hat. Der Antisemitismus der Linkem tut so, als wäre er politisch kritisch, antirassistisch, aber in Wirklichkeit steckt dahinter dieselbe tiefe antisemitische Leidenschaft. Und im Extremsten bedeutet das eigentlich eine Auschwitz-Leugnung von links.

Dabei unterscheidet die Linke ja immer schön. Sie haben zwar etwas gegen Israel, aber natürlich nicht gegen Juden. Ist das Ausdruck eines weltweit zunehmend grassierenden Antisemitismus, der sich als Antizionismus tarnt? 
Da ist einmal die Unterstellung, Israel wäre ein Kolonialstaat und ein Apartheidstaat. Diese Sicht ist nur möglich, wenn so getan wird, als wäre Theodor Herzl hier in Wien losgezogen, um die arabische Arbeit auszubeuten und Orangen zu züchten in Jafa. Man blendet aus, was eigentlich wirklich die jüdische Bewegung des Zionismus bedeutet hat. Nämlich eine Befreiungsbewegung derer, die in Europa verfolgt wurden; und eigentlich eine Art Antikolonialismus der jüdischen Menschen, die gesagt haben, gut, wir wollen eine Befreiung von dieser europäischen Not. Es ist ein Verschwörungsmythos, der sich in alle gesellschaftlichen Schichten hineingefressen hat. Was ist ein Antisemit? Es ist eigentlich ein Selbsthass der Gesellschaft. Und dieser Selbsthass wird dann meistens nicht zugegeben, sondern Antisemit ist immer nur der andere. Es ist wie beim Mundgeruch. Man sieht den Antisemitismus als Linker beim Rechten, als Freiheitlicher nur bei den Muslimen, und als Rechter nur bei den Linken. Interessant beim Antisemitismus ist auch, wenn das Opfer, also der Jude, eine Schwäche zeigt, dann gibt es kein Mitleid, ganz im Gegenteil, dann geht es richtig los. 

In der Kulturszene gibt es ein massives antisemitisches Problem. Und wenn Politiker dagegen aufgetreten, dann lösen sich ihre Statements gegen Antisemitismus gerne in allgemeine Empörung gegen Rassismus auf. 
Ja, aber Rassismus ist die Biologisierung des Sozialen oder die Legitimierung des sozialen Unrechts durch Biologie. Und Rassismus möchte die Diskriminierung, möchte die Ausbeutung. Das ist nicht so beim Antisemitismus. Der Anti-semitismus ist eine Welterklärung. Die Erklärung, dass diese Welt wegen finsterer Mächte nicht funktioniert. Und das Heil der Welt ergibt sich für den Antisemitismus durch die Ausschaltung und Vernichtung dieser Kräfte. Das heißt, der Antisemitismus möchte die Auslöschung. Der Rassismus kann auch zur Auslöschung führen, aber will zuvorderst die Diskriminierung. Wer dies vermengt, entzieht sich der Antisemitismuskritik.

Kriegsziel ist Befreiung der Geiseln, Vernichtung der Hamas. Es widerspricht sich. Wie will ich Geiseln befreien, wenn ich die vernichten will, die die Geiseln festhalten?
Ja, also die Vernichtung der militärischen Basen der Hamas ist nicht vollkommen unmöglich, aber mit furchtbaren Kollateralschäden, für die Menschen, aber auch für das Image Israels verbunden. Daher zweifle ich daran, dass das jetzt geschehen wird. Aber dennoch, was macht das mit der Gesellschaft, wenn wir die Geiseln aufgeben? Eine internationale Politik, die einen Waffenstillstand fordert und nicht deutlich von der Hamas die Freilassung der Geiseln fordert, ist zutiefst verlogen und zynisch.

Waffenstillstand, aber ohne Freilassung der Geiseln?
Ja, und nur unter Bedingungen der Hamas, die von Austausch redet. Das ist kein Austausch. Das ist Freikauf der Geiseln für verurteilte Mörder, Massenmörder, Leute, die den 7. Oktober gemacht haben. Für die palästinensische und die israelische Gesellschaft stellt sich dennoch die Frage, wie kommen wir da wieder raus? Wie schaffen wir eine Perspektive? Es ist ganz klar, einige Kräfte wollen das nicht. Aber es gibt ja doch auch Menschen, die zueinander finden wollen.

Wie siehst Du die Strategie Benjamin Netanjahus und der Regierung? 
Das Ziel liegt derzeit in der Dunkelheit. Und das Ziel müsste einerseits die Ausschaltung der Hamas, aber andererseits auch ein großzügiges Angebot sein, die Überlegung gleichzeitig mit der internationalen Gemeinschaft und mit den arabischen Staaten, wie man den Menschen in Gaza helfen kann. Ich glaube, es gibt Kräfte in der arabischen Welt, die ein Miteinander finden wollen. Dazu gehört auch die Anerkennung des Staates Israel. Das ist mit der Hamas unmöglich. Der Überfall soll das ja genau verhindern.

Für Dich ist nach wie vor die Zwei-Staaten- Lösung letztlich die Lösung dieses Konfliktes.
Ich weiß keine andere. Aber wir dürfen nicht vergessen, wir reden über ein sehr kleines Land. Da leben die Menschen ein paar Kilometer weiter östlich, ein paar Kilometer weiter westlich, mit allen Problemen, Grenzen zu setzen. 

Geographische Nähe heißt auch Gefahr, Verwundbarkeit.
Ja, die Frage der Sicherheit ist heute zentraler für beide Seiten als das, was mit dem großen Wort Frieden oft gemeint ist. Frieden heißt nicht, dass man sich gleich mag. Die einzige Perspektive ist der Wunsch der Menschen, dass das Kind in der Früh in die Schule geht und in einem Stück wieder zurückkommt. Das möchte eine Mutter diesseits und jenseits der Grenze.

Doron, herzlichen Dank fürs Gespräch!

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.