Gerald A. Matt

Kunstmanager, Publizist und Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien

„Das Schreckliche am Schönen ist seine Nähe zum Abgrund“

September 2019

Gerald A. Matt traf den international renommierten österreichischen Philosophen und streitbaren Autor Konrad Paul Liessmann zu einem Gespräch. Liessmann ist Universitätsprofessor für „Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik“ an der Universität Wien und leitet seit 1996 das Philosophicum Lech. Ein Gespräch über Philosophieren, über Eliten und Demokratie, Bildung und Schönheit, Gott und die Welt.

Vorweg zum Philosophicum in Lech am Arlberg, dessen wissenschaftlicher Leiter Sie seit über 20 Jahren sind, ein Gipfeltreffen der Philosophen und Wissenschaftler, längst Pflichtbericht für Feuilletons und eine Ehre für Geladene, was macht das Philosophicum so erfolgreich?
Die Idee kam vom Lecher Bürgermeister Ludwig Muxel und Michael Köhl­meier. Als ich gefragt wurde, ein Konzept zu entwickeln, war das für mich die Möglichkeit, einen Traum zu verwirklichen. Ein Philosophieren im Gebirge, wo hochkarätige Wissenschaftler mit dem Publikum in Kontakt treten und sich in einer sehr konzentrierten Atmosphäre einige Tage auf ein Thema und die existentiellen Fragen unseres Seins fokussieren können. Das ist sicher Grund für den Erfolg.

Das diesjährige Thema lautet: „Die Werte der Wenigen. Eliten und Demokratie.“ Kurzum sind Eliten Gefahr oder Hoffnung für die Demokratie? Was bewegt Sie, dieses Thema aufzugreifen?
Es ist ja eines der brennenden Themen unserer Zeit. Überall ist von einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft die Rede, von globalen Eliten, die einerseits den Fortschritt vorantreiben, andererseits in vielen Fragen offenbar auch versagen. Und dann gibt es das interessante Phänomen, dass die Elitenkritik, einst eine Domäne der Linken, nun von rechtspopulistischen Parteien vorangetrieben wird. Grundsätzlich aber geht es um die Frage, ob die Existenz von Eliten, also von ausgewählten Menschengruppen, denen man Besonderes zutraut oder abverlangt, denen man auch besondere Macht und Verantwortung zutraut oder unterstellt, mit der Demokratie, die ja auf dem Prinzip der Gleichheit der Menschen und der Teilung der Macht beruht, vereinbar ist.

2017 sprachen Sie „Über Gott und die Welt, Philosophieren in unruhiger Zeit“. Dies klingt ein wenig so, als ob Philosophie heute alles und jedes zum Thema hat, ist der Philosoph ein Alleskönner?
Alles können, nein, aber alles fragen, das ja. Mit dem Titel „Gott und die Welt“ wollten wir ironisch dem Vorwurf in der Philosophie, es gehe um alles und damit um nichts, begegnen. Was fragt der Philosoph? Immanuel Kant hat es so formuliert: „Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen? Und: Was ist der Mensch? Gott steht für uns für alles Unerklärliche. Wir wenden Milliarden von Forschungsgeldern auf, um ein wenig über den Ursprung des Universums zu erfahren, obwohl es mit dem praktischen Leben gar nichts zu tun hat. Trotzdem interessiert es uns. War etwas vor dem Urknall? Wie lässt sich ein Sinn des Lebens formulieren? Wenn nicht die Philosophie diese Frage offensiv und offen stellen kann, wer dann? Auf der anderen Seite ist da die Welt, in der wir leben. Welche unterschiedlichen Welten gibt es eigentlich? Was machen wir mit dieser Welt? Die Koppelung dieser Frage – Gott und die Welt – finde ich sehr naheliegend.

„Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang“ schreibt Rilke in seinen Duineser Elegien. Vor einigen Jahren gaben Sie dem Philosophicum das Motto „Vom Zauber des Schönen. Reiz, Begehren und Zerstörung“. Was ist so schrecklich an Schönheit? Warum tut sich die Kunst heute immer noch schwer mit der Schönheit?
Das Schreckliche am Schönen ist seine Nähe zum Abgrund. Angesichts des Schönen nehmen wir ja das Hässliche und Ungenügende der Welt viel genauer wahr. Die Erfahrung von Schönheit ist so immer melancholisch, auch weil Schönheit immer bedroht ist. Wie schnell ist alles Schöne dieser Welt – ein Wald, ein Kunstwerk, ein Gebäude, ein Mensch – zerstört. Deshalb gibt es auch den Hass auf das Schöne. Es gemahnt uns an unsere eigene Destruktivität. Und deshalb tun sich auch manche Künstler so schwer mit dem Schönen. Sie haben den Verdacht, es handele sich nur um Schein, um falsche Versöhnung, um Kitsch. Das gibt es zwar alles – aber das Schöne als das in sich Stimmige und Gelungene ist davon frei.

Man kann Philosophie lehren und kein Philosoph sein, man kann Philosoph sein und nicht Philosophie lehren. Wo siedeln sie sich selbst an, und die ganz banale Frage, was ist ein Philosoph?
Wenn man einen sehr strengen akademischen Begriff hat, muss der Philosoph wie jeder andere Wissenschaftler auch scharf denken können, viel gelesen haben, gut argumentieren, Ideen haben und in renommierten Journalen publizieren, Bücher schreiben, Professuren innehaben, und vor allem Drittmittel einwerben. Natürlich muss man sich bei der Philosophie überhaupt fragen, inwieweit sie lehrbar ist.
Wittgenstein hat geschrieben: „Philosophie ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit.“ Es gibt nicht Philosophie, sondern das Philosophieren. Dann ist unsere Aufgabe, nicht Philosophie didaktisch aufzubereiten und zu lehren, sondern Menschen zu animieren, selbst zu philosophieren und die philosophische Tätigkeit als Moment ihres Lebens zu begreifen. Diese Haltung ist mir sehr sympathisch.

Sie sind nicht nur an der Universität tätig, sondern auch in unterschiedlichsten Medien präsent. Sehen Sie sich auch als Volksbildner? 
Volksbildung klingt mir zu patriarchisch, ja absolutistisch. Da sind die unbedarften Kinder und wir erklären alles von oben, das ist nicht mein Ansatz. Aber ich glaube, dass Philosophie auch die Aufgabe hat – weil sie große Erfahrung und eine große Geschichte hat – sich in den öffentlichen Diskurs einzubringen und sich auch aktuellen Problemen stellen sollte.

Gab es so etwas wie ein Erweckungserlebnis, die Lektüre eines Buches oder Textes, eine Begegnung mit einer interessanten Lehrerpersönlichkeit, die sie Philosoph werden ließ?
Meine Eltern, vor allem meine Mutter, hatten ein Naheverhältnis zur Literatur und zur Kunst. Es gab damals in einem Buchklub eine populäre Einführungsreihe in verschiedene Wissensgebiete, von „Du und die Musik“ bis zu „Du und Philosophie“. Da habe ich viel darin herumgeblättert und bin hängengeblieben bei der Philosophie, bei der Geschichte des Sokrates, die Geschichte eines Menschen, der für das, was er für wahr und richtig hielt, in den Tod ging. Sokrates wurde wegen Verführung von Jugendlichen, heute würde man sagen wegen Kindesmissbrauch und Gotteslästerung verurteilt, vielleicht zu Unrecht, aber vielleicht auch zu Recht, denn letztlich hat er die antiken Götter geleugnet und an deren Stelle seinen Dämon, seine innere Stimme, sein subjektives Gewissen gesetzt. Aber er hat das Urteil akzeptiert, weil es auf Basis des Gesetzes gefällt wurde, das er als Bürger Athens selbst mitformuliert hatte. Folglich lehnte er auch das Angebot zu fliehen ab. Das hat mich wirklich gepackt, ja fasziniert.

Gibt es einen Philosophen, der Ihnen besonders nahesteht, den Sie immer wieder lesen? Sie haben sich in Ihren Büchern im Besonderen mit Günther Anders oder auch mit Sören Kierkegaard befasst. Was faszinierte sie gerade an diesen Philosophen? 
Eigentlich ist das Schöne an meinem Beruf, dass ich jeden Philosophen, den ich zu lesen beginne, faszinierend finde. In meiner Jugend, als ich mich zum ersten Mal mit Philosophie wissenschaftlich beschäftigt habe, war Hegel wichtig für mich. Und Marx natürlich, das lag auch am Zeitgeist damals. Dann hatte ich Glück, den alten Günther Anders persönlich kennen zu lernen, eine beeindruckende Person, der mir zum ersten Mal das Gefühl gab, Philosophieren als Tätigkeit zu fassen. Er war der Prototyp des nicht-akademischen Philosophen, der nie an der Universität gelehrt hat, sondern als freier Schriftsteller, als engagierter politischer Mensch, seine Philosophie gelebt hat. Schließlich bin ich dann auf Kierkegaard gestoßen, der mir für viele Fragen die Augen geöffnet hat. Und dann dürfen wir Friedrich Nietzsche nicht vergessen, den ich für den eigentlichen Philosophen unseres Zeitalters halte. So bösartig er war, so hellsichtig war er auch – was Politik betrifft, was Moral betrifft, was Aufrichtigkeit betrifft, was die Kunst betrifft und nicht zuletzt was die Religion betrifft: Gott ist tot!

In ihrer Streitschrift „Geisterstunde. Praxis der Unbildung“ zeigen sie sich als scharfer Kritiker gegenwärtiger Bildungspolitik und jener sogenannten Bildungsexperten, die Schule zum Sanierungsfall abstempeln und Dauerreformen, ja eine Bildungsrevolution, einfordern. Warum kein Wandel, auch die Welt wandelt sich? 
Die Schule verändert sich mit den Menschen und ihrer Welt ohnedies ständig. In Kierkegaards „Die Krankheit zum Tode“ ist eine Form der Verzweiflung jene ohne Not „verzweifelt, jemand anderer sein zu wollen“. Das kommt mir in den Sinn bei all der Hysterie, die ohne einen vernünftigen Grund verkrampft und verzweifelt eine andere Schule erfinden will. Mir scheinen all diese permanenten inneren oder äußeren Reformen oft nichts anderes zu sein als ein verzweifelter Austausch der Etiketten. Auf der Strecke bleibt die Bildung. Letztlich komme ich auf Schiller zurück. Mir geht es um die ästhetische Erziehung und das Denken des Menschen, um Freiheit, um Selbstbezüglichkeit und Souveränität, die das menschliche Leben wertvoll macht und verloren geht, wenn man überall diesen Nützlichkeitsimperativ dagegensetzt. Und deshalb halte ich die musischen Fächer, wo das gelernt werden kann, für so wichtig. Wie deprimierend ist es für einen jungen Menschen, wenn er alles nur deshalb macht, weil es irgendjemand irgendwann brauchen kann. Da verliert er doch die Freude an allem, und vor allem an der Kunst, denn die Kunst ist das, was man nie für etwas brauchen kann. 
In ihren Schriften zur Bildung kritisieren sie vor allem ein System und Denken, das zunehmend auf jegliches verbindliche Wissen verzichten will und unverbindliche Kompetenz an seine Stelle setzt, was letztlich zu einem funktionalen Analphabetentum führe? Ist da der Polemiker mit ihnen durchgegangen oder steht es wirklich so schlimm um unsere Schulen?
Die Zunahme des funktionalen Analphabetismus zeigen alle Lesetests und meine Erfahrung auf der Uni. Kompetenzorientierungsdebatten sind Fluchtdebatten – nur nicht festlegen, nur nicht urteilen, nur nicht werten, eine Form von pädagogischer Feigheit. Es wird kein inhaltlicher Diskurs geführt. Damit geben wir die Idee von Bildung auf, nämlich, dass es ein Wissen, Gedanken, Theorien, Texte, Werke und Bücher gibt, die wichtig und lesenswert sind. Entscheidend ist, nicht nur wie man, sondern auch, was man lesen soll. Das fehlt im heutigen Schulsystem. Das ist das größte Problem bei der Kompetenz­orientierung. 

Als Polemiker erweisen Sie sich auch In dem Essayband „Der gute Mensch von Österreich“, entstanden 1980 bis 1995, in dem sie eine Kritik an der Umweltverschmutzung durch Autoabgase mit dem Titel „Das Prinzip Auschwitz“ versehen. Fühlen sie sich durch die dramatische Zuspitzung der Umweltkrise bestätigt?
Das ist nicht ganz richtig. In dem Aufsatz geht es um die industrielle Menschenvernichtung, wie sie die Nazis betrieben haben, und darum, dass wir den negativen Aspekt, der im Prozess der Industrialisierung an sich steckt, gerne ignorieren – eine These, die von Günther Anders stammt. Das Automobil war damals für mich auch ein Beispiel dafür, dass wir mit diesem Gerät, also mit industrialisierter Technik, Dinge tun dürfen, die wir ansonsten verabscheuen würden: Luft verpesten, Landschaft ruinieren, Städte verschandeln, Menschen töten. Und die aktuelle Debatte scheint diese Analyse 30 Jahre später ja zu bestätigen.

Political correctness hat sich längst auch an Österreichs Hochschulen durchgesetzt. Nötiger Schutz vor Beleidigung und Diskriminierung oder vielmehr für eine neue Form von Zensur? Wie halten sie es damit?
Ich hoffe, altmodisch wie ich bin, dass ich noch so gut erzogen worden bin, dass ich auf die Regeln der politischen Korrektheit verzichten kann und dennoch keinen Menschen beleidige oder herabsetze. Die Hypersensibilität und die Hypermoral, die in aktuellen Debatten zum Ausdruck kommt, trägt allerdings schon bedenkliche Züge. Wenn ein wunderbares Gedicht von Eugen Gomringer, das dieser einer Hochschule geschenkt hatte, entfernt wird, weil sich eine kleine Gruppe dadurch negativ angesprochen sieht, dann geraten wir in eine Welt, in der selbsternannte Moralwächter über unser Sprechen und Denken zu herrschen beginnen – und in solch einer Welt möchte ich nicht leben.

Sie sind ein sehr redegewandter Mann,
hat es Ihnen schon einmal die Sprache verschlagen?

Nicht, dass ich wüsste! 

Vielen Dank für das Gespräch!

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