Gerald A. Matt

Kunstmanager, Publizist und Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien

Gedanken zu Kunst und Moral

April 2023

Anlass für meinen Kommentar ist der Fall Florian Teichtmeister, aber auch die im Zuge von Identitätspolitik und Wokismus zunehmende Vereinnahmung und Zensurierung von Kunst. Mein Kommentar ist keine Fürsprache oder gar Entschuldigung für strafrechtlich relevantes Verhalten, sondern ein polemisches Plädoyer für die Freiheit der Kunst. Denn es ist eine selbstgerechte Jakobinermoral und eine willfährige und ängstlich sich an den Zeitgeist anpassende Kulturnomenklatura und Medienszene, die – indem sie Kunst nur mehr unter moralischen Gesichtspunkten beurteilt und einen einwandfreien moralischen Lebenswandel von Künstlern und Künstlerinnen voraussetzt und einfordert –, eine Stimmung schafft, die zunehmend die Freiheit der Kunst und letztlich auch die Freiheit der Meinung einschränkt. Leben und Werk eines Künstlers oder einer Künstlerin werden gleichgeschaltet und die künstlerische Leistung zunehmend nach dessen oder deren moralischer Integrität beurteilt.
Demgegenüber schreibt Oscar Wilde: „Es gibt kein moralisches oder unmoralisches Buch. Bücher sind gut geschrieben oder schlecht geschrieben. Das ist alles.“ So lautet einer der vier Aphorismen, die Wilde 1891 der Buchausgabe von „Das Bildnis des Dorian Grey“ voranstellte, indem er – wie auch in seinem Aufsatz „Der Verfall des Lügens“ – Kunst und Moral rigide trennt und die Überlegenheit der Kunst über das Leben, der Fiktion über Fakten und der Fantasie über die Vernunft proklamiert. So hält Wilde fest: „Das Ziel der Kunst ist nicht die banale Wahrheit, sondern eine komplexe Schönheit.“
Oscar Wilde reklamiert eine klare Trennung der Sphären von Kunst und Moral, ja von Ästhetik und Ethik. Kunst ist gut oder schlecht, sie ist nicht moralisch oder unmoralisch. Nach Wilde erlaubt eine Kunst, die nicht konform geht mit dem vorherrschendem Moralkodex, nicht den Schluss auf die Moral des Künstler, so wenig wie die Unmoral eines Künstlers mit dessen Kunst gleichgesetzt werden kann. Oscar Wilde musste selbst als Autor schmerzlich erleben, wie seine als unmoralisch diskreditierten Bücher als Vorwand dienten, um ihn auch als unmoralische Person zu diskreditieren und sein damals gesetzlich verbotenes und gesellschaftlich abgelehntes homosexuelles Verhältnis zu Lord Alfred „Bowie“ Douglas wiederum nicht nur den Vorwand schuf, ihn als Autor abzuwerten, sondern auch den unliebsamen und gesellschaftlichen Störenfried ins Gefängnis zu bringen. 
Seine künstlerische Karriere war damit zumindest zu seinen Lebzeiten ruiniert. Dass er nach seinem Ableben wieder gefeiert wurde, zeigt bestenfalls, dass der Tod eines Künstlers oft erst die Trennung von Person und Werk, Moral und Kunst akzeptabel macht.
Wildes Position ist klar, Wilde, der Schöngeist findet alle Kunst „ganz und gar nutzlos“, was nichts anderes heißt, dass sie nicht für Außerkünstlerisches instrumentalisiert werden darf, auch nicht für die vermeintlich „gute Sache“ und gerade diese Unabhängigkeit sie so wertvoll macht. Kein Wunder, dass Wildes Haltung, Bücher, Aufsätze, Gedichte, Kommentare in gleichem Maße wie sein Lebenswandel Ablehnung und Hass bei den viktorianischen Tugendwächtern und Moralaposteln hervorriefen.
Wilde, der Freigeist, gießt infolge immer wieder Öl ins Feuer seiner Gegner. So betont er unablässig: „Die Sphäre der Kunst und die Sphäre der Ethik sind absolut separat und je für sich.“ Und er schreibt gegen die Zeitungen und Leserbriefe an, die ihn zunehmend attackieren: „Dieser Puritanismus der Kritiker ist nie so beleidigend und zerstörerisch, wie wenn er sich mit Kunst beschäftigt.“ Gleichzeitig setzt Wilde der Kunst dort Grenzen, wo Realität und Leben dominieren: „Es ist angemessen, wenn Handeln Begrenzungen unterliegt. Es ist unangemessen, wenn Kunst Begrenzungen unterliegt.“
Arnulf Rainer erklärte mir vor vielen Jahren, als strafrechtliche Ermittlungen gegen Otto Mühl eingeleitet wurden: „Hier ist die Kunst und da ist das Kriminal und dazwischen ist nichts.“ Rainers saloppe Abgrenzung von Kunstwerk und Künstler, von Kunst und Leben und Kriminal ist nichts anderes als eine etwas saloppere Formulierung von Oscar Wildes Gedanken. 
Aber nochmals zurück zu Oscar Wilde, dem Utopisten, der in „Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus“ träumt: „Ich selber freue mich auf die Zeit, da die Ästhetik den Platz der Ethik eingenommen hat und der Schönheitssinn das lebensbeherrschende Gesetz sein wird. Es wird nie so sein, also freue ich mich darauf.“ Das Gegenteil hievon bestimmt heute unsere durch Political Correctness und Wokismus vergifteten gesellschaftlichen und kulturellen Debatten mit ihrer Tendenz zur Zensur der Kunst.
Dabei werden auch räumliche und zeitliche Grenzen ebenso bedenkenlos übersprungen wie jene von Kunst und Leben. Die undifferenzierte und reaktionäre Pseudomoral der Neuen Jakobiner maßt sich eine Gültigkeit semper et unique an. Ob Kolumbus, Marx, Churchill, ob Mittelalter, Neuzeit, Gegenwart, ob Europa, Afrika oder Asien, die gedankenlose zeitgeistige Verurteilung historisch verdienstvoller und nur aus ihrer Zeit und deren Moralvorstellungen zu beurteilender Persönlichkeiten wegen moralischem Fehlverhalten lasst keinerlei Differenzierung mehr zu und führt zu einer bedenklichen Gleichschaltung mit Massenmördern wie Hitler oder Stalin. 
Wenn alles überall und jederzeit gleich unmoralisch ist, ist keine sachliche Differenzierung mehr möglich. Selbst bei Hanna Arendt, der bislang geehrten Kämpferin gegen Nazismus und Totalitarismus, wurde in einigen Bemerkungen Rassismus diagnostiziert. Ist Hanna Arendt nun Personifikation des Bösen, mit dem sie sich so sehr beschäftigte?
Ein geäußerter Verdacht genügt, um in Zukunft Filme von Woody Allen, dem bislang unbewiesen eine sexuelle Beziehung zu seiner damals minderjährigen Tochter vorgeworfen wird, mit gutem Gewissen nicht mehr ansehen zu dürfen, was immer dieser auch mit der Qualität seiner Filme zu tun hätte. 
Selbst ein Freispruch durch die Justiz findet bei den Gralshütern der politisch korrekten Moral keine Akzeptanz, denn was nach den demokratisch legitimierten Gesetzen und Gerichten rechtmäßig ist, hat noch lange keinen Bestand vor ihrer selbstgerechten Anmaßung. Geradezu selbstverständlich werden Boykott und Rufmord auch in der Kunstwelt („cancel culture“) als neue moralische Strafen verhängt. Künstler sind keine über Gesetzen stehende Halbgötter, aber sie taugen auch nicht zu Heiligen einer Gesellschaft, die ihr Gutmenschsein von der korrekten Müllentsorgung nun auch auf eine ethisch korrekte Kunst ausdehnt und sämtliche gesellschaftlich ungelösten Probleme an die Kunst delegiert. Herausragende Kunst entsteht weder in moralischen Anstalten noch in Wohlfühloasen für Moralisten, geht es doch um Extremes und Existentielles, um Aufbegehren und Parallelwelten. 
Politische Korrektheit, der Dienst an der guten Sache und der globalen Weltverbesserung, gutes Benehmen und einwandfreier Lebenswandel können kein Ersatz für künstlerische Vision, Radikalität und Kritik sein. Gute Kunst muss frei, radikal und kompromisslos sein. Sie soll Debatten auslösen, Gegenmeinungen provozieren, sie kann, ja muss auch immer wieder skandalös sein. Politisch korrekt und moralisch muss sie nicht sein. 
Und es sind gerade die Fälle von Mühl und Teichtmeister, die Oscar Wildes Haltung und Arnulf Rainers Verdikt bestätigen, hier die Kunst und dort das Kriminal. Denn wer im Rahmen seiner Kunst und künstlerischen Arbeit die Trennung der beiden Sphären Kunst und Moral aufhebt und wie Mühl in seiner totalitären Kommune eine Einheit von Kunst und Leben schafft und dabei das Strafrecht verletzt oder wie der der Pädophilie überführte Florian Teichtmeister als Schauspieler auf Bühne oder im Film Kindern nahe kommen könnte, der muss sich auch den rechtlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen stellen. Das gebietet aber nicht, einen Film, in dem Teichtmeister Kaiser Franz Josef verkörpert, vom Bildschirm oder aus dem Kino zu verbannen oder Gemälde von Mühl, die unabhängig von seinen Aktivitäten in der Kommune entstanden sind, in einer Ausstellung zu zeigen. 
Oscar Wilde wusste also, wohin die unzulässige Vermischung der Sphären von Moral und Kunst führen wird. Für die Kunst gelten die Kriterien der Kunst, für das Leben die der Moral und des Strafrechts. Denn die Freiheit der Kunst ist der Barometer für die demokratische Verfasstheit einer offenen Gesellschaft, letztlich für Freiheit, Menschenwürde und Menschenrechte. Oscar Wilde formulierte umso poetischer: „Durch Kunst und nur durch Kunst erreichen wir Vollkommenheit; durch Kunst und nur durch Kunst entgehen wir den grauenhaften Gefahren des Alltags.“

 

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