Gerald A. Matt

Kunstmanager, Publizist und Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien

„Grau war es schon. Wunderbar Grau.“ Österreichs Kunst in den 1960er Jahren

Oktober 2021

Über eine Künstlergeneration in einem Land zwischen konservativer Beharrung und gesellschaftlichem Aufbruch. Heute zählen die sich damals formierenden künstlerischen Strömungen zu den wichtigsten Beiträgen der österreichischen Kunst zur Kunstgeschichte der Moderne.

Grau war es schon. Wunderbar grau. Vor allem in politischer Hinsicht, denn mit Politik hat man sich in dieser Zeit nicht beschäftigt. Sie war uninteressant.“ Raimund Abrahams Antwort auf die Frage nach dem „grauen“ Wien der 1960er-Jahre trifft im Kern die Ambivalenz dieser Zeit. Der als grau empfundenen konservativ bürgerlichen Republik der „Ära Klaus“ wurde kaum mehr als ein interesseloses Wohlgefallen entgegengebracht, zugleich aber evozierte das sie erzeugende „wunderbar“ graue Klima ein Durchbrechen gesellschaftlicher Konventionen und Tabus in einem offenbar stärker anarchisch-subversiven als ideologisch-programmatischen Sinn. Die 1960er-Jahre waren eine Zeit, bei der man nicht wissen konnte, ob man noch einmal in den 1950er-Jahren landet oder ob da irgendetwas anderes kommt, etwas Neues – kommt da eine freiere Gesellschaft?
„Das war eigentlich in Schwebe“, sagt Franz Schuh rückblickend, „und aus dieser Schwebe heraus entwickelte sich eine ungemein vitale Kunstszene.“ Wie sie zurückgekommen sei, memoriert Elfi Semotan ihre Ankunft aus New York im Jahr 1969, „war diese Kunstszene plötzlich voll da, da war ein Austausch möglich, es gab Orte, wo man sich treffen konnte. Da ist alles an die Oberfläche gekommen.“ Und wer aus der österreichischen Provinz nach Wien gekommen war – das waren die meisten – konnte schon zu Beginn der 60er-Jahre einen Hauch von Weltstadt wittern: „Wien war im Vergleich zu dem, was ich kannte, eine Metropole voller Leben. Ich wusste gleich, dass ich hierbleiben werde, auch im Vergleich zu Zürich oder München. Ich wollte hier selbstständig etwas anfangen“, erinnert sich die aus Vorarlberg kurz vor 1960 in Wien angekommene Ingrid Reder.
Das Jahr 1968 ergriff auch die Wiener Studentenschaft, wenngleich es nicht in politischem Aufruhr, sondern in einem künstlerischem Protest seinen Höhepunkt und Skandal fand, die als „Uniferkelei“ die Wiener Medien erregte und Jahrzehnte später erst unter ihrem O-Titel „Kunst und Revolution“ in die Kunstgeschichte einging. Das Jahr 1968 stellte auch in Österreich die wichtigste Zäsur her zwischen dem „sehr tiefen Niveau des geistigen Lebens nach 1945“ wie Peter Weibel erklärt und einem neuen, liberaleren Klima, das die Ära Kreisky einleitete. „Kreisky war einer der ersten, der die Rolle der 68er-Generation erkannte und keine Berührungsängste zur Avantgarde zeigte“, konstatiert der Galerist John Sailer.
Die 1960er-Jahre waren das Jahrzehnt, in dem sich künstlerisch die ersten markanten Umbrüche zur Nazizeit zeigten. Auch konnte jetzt erst auf breiter Ebene eine Auseinandersetzung mit internationaler Kunst erfolgen, die direkt über Reisen und Aufenthalte in anderen Kunstzentren von Paris über Berlin bis New York stattfanden. 
Die heute bemühten Abgrenzungen zwischen unterschiedlichen künstlerischen Gruppierungen schienen zumindest Anfang dieses Jahrzehnts längst nicht so ausgeprägt, wie man es aufgrund späterer Animositäten vermuten würde. So trafen sich Vertreter unterschiedlichster Szenen durchaus in den gleichen Lokalen von Adebar über Strohkoffer, bis Café Sport und hatten Umgang miteinander. 
Es war auch die Zeit, in der sich das „Kunstbetriebssystem“, wie es heute längst selbstverständlich ist, in seinem Zusammenwirken von Galerien, Sammlern, Kuratoren, Institutionen, Kunstmessen und Auktionen erst ganz allmählich entwickelt hat. Die wenigen Wiener Galerien, die es in Wien bis 1970 gab, waren in erster Linie Informationsgalerien, und nur „eine kleine Gemeinde von Sammlern hat in bescheidenem Ausmaß gekauft“ sagt John Sailer. Ein nennenswerter Kunstmarkt für zeitgenössische Kunst sollte erst viele Jahre später entstehen. 
Die Künstlervereinigungen spielten in jenen Tagen primär als Veranstaltungsorte fröhlicher Faschingsfeste eine Rolle und selbst das Museum des 20. Jahrhunderts, das 1962 unter der Leitung von Werner Hofmann ein engagiertes Ausstellungsprogramm begann, diente stärker der Aufarbeitung der Moderne denn der Präsentation zeitgenössischer Kunst. „Die Künstlerinnen blieben in dieser Zeit noch in der Minderheit und hatten es in einer männerdominierten Gesellschaft nicht leicht. Einer Frau traute man damals nichts zu“, erinnert sich die Malerin Christa Hauer-Fruhmann. Und Muse und Model Susanne Widl berichtet: „Eine Frau wie ich, die immer schon extrem war, wurde als Fremdkörper betrachtet. Dennoch haben mich die 1960er Jahre stark gemacht als Person und Frau. Der Geist der Revolte, der Unangepasstheit, der Eigenwilligkeit ist geblieben.“ 
Maria Lassnig verließ Wien aus Gründen, die nicht zuletzt mit den Aktionisten zu tun hatten. So sagt Lassnig: „Aus Protest. Mir gingen sie auf die Nerven mit ihrem Männlichkeitsgetue.“ Dennoch gelang es Frauen wie Maria Lassnig, Valie Export und Kiki Kogelnik, sich durchzusetzen. Dazu bedurfte es jedoch zuerst ihrer Anerkennung im Ausland. Und es waren männerdominierte Künstlergruppen wie die Wiener Gruppe oder die Aktionisten, allen voran Günter Brus, Hermann Nitsch oder Otto Mühl, die mit ihren Werken, Performances und Aktionen provozierten und sich nicht nur gesellschaftlicher und medialer Ablehnung gegenübersahen, sondern auch Sanktionen bis hin zu polizeilicher Verfolgung und Schikanen auf sich nehmen mussten. Als Folge der engen und spießigen gesellschaftlichen Atmosphäre emigrierten Künstler wie Günter Brus und Oswald Wiener und gingen nach Berlin, um nicht in die Fänge der Justiz zu geraten. Sie waren wegen der „Uni-Ferkelei“ und der damit verbundenen „Verletzung der Sittlichkeit und Schamhaftigkeit“ zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt worden, zudem drohte Wiener ein Verfahren wegen Gotteslästerei. Es ist wohl kein Zufall, dass Oswald Wiener das von ihm in Berlin betriebene Lokal „Exil“ nannte.
Vielleicht steht folgende, 1978 rückblickend von Oswald Wiener gemachte Aussage für die politische Haltung der Künstlerszene der 1960er-Jahre: „Wir haben lange Zeit im Schrifttum des Anarchismus nach theoretischen Entwicklungen gesucht. Es schien aber dann, dass in gewissen Romanen und Gedichten, in den Lebensläufen ungewöhnlicher Menschen und in Werken, die man zu den Kuriosa zählt, mehr über unsere Probleme zu erfahren gewesen ist als bei dennoch recht einfältigen Revolutionären, die die Rechte von Wahrheiten und Mehrheiten zu den ihren machten ...“

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