Sabine Barbisch

Haas „Ich bin ein lebender Beweis dafür, dass man sich grundsätzlich ändern kann“

Mai 2020

Georg Friedrich Haas zählt zu den wichtigsten Komponisten der Gegenwart. Seine Kindheit und Jugend hat er im Montafon verbracht. Im Gespräch mit „Thema Vorarlberg“ erzählt er, dass das Komponieren schon immer sein Traum war, wo er seine ersten Erfolge feierte, und er spricht über sein Verhältnis zu Vorarlberg.

Mein Kindheitstraum war, Komponist zu werden. Es schien absurd: Damals gab es im Montafon nicht einmal eine Musikschule, aber dieser Traum ging dann in Erfüllung“, erzählt Georg Friedrich Haas, den wir in Marokko erreichen. Dort sitzt er mit seiner Frau wegen der Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus fest. Eigentlich lebt das Paar in New York, in einem Apartment im 22. Stockwerk eines Hochhauses: „Ich habe einen schönen Ausblick auf den Hudson River und auf New Jersey. Im Haus allein leben ungefähr so viele Menschen wie in ganz Tschagguns in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Das Schöne ist: Ich kann hier, in dieser Großstadt so allein sein, wie ich es als Kind in Latschau war.“ Das Haus, in dem Haas die Zeit vom dritten bis zum achten Lebensjahr verbracht hat, ist heute ein Gasthaus: Das „Bergheim Sulzfluh“ in Latschau, einem Ortsteil von Tschagguns. Er besuchte das Gymnasium in Bludenz und erinnert sich an wichtige Einflüsse durch seinen Musikprofessor Gerold Amann zurück. Es folgte ein Studium an der Musikhochschule in Graz, dort arbeitete er später zunächst als Lehrbeauftragter, dann als Bundeslehrer und zuletzt als außerordentlicher Universitätsprofessor. Später wurde der heute 67-Jährige an die Musikakademie in Basel berufen, und seit 2013 ist er Professor auf Lebenszeit an der Columbia University in New York. 

„Ich BIN Komponist“

Als Jugendlicher schrieb Georg Friedrich Haas Gedichte, verliebte sich zum ersten Mal und wollte ein Liebesgedicht schreiben: „Aber ich schaffte es nicht. Ich ging ans Klavier und schlug einen Akkord an und verstand plötzlich, dass dieser Akkord viel präziser und deutlicher ausdrückt, was ich sagen will, als ich es mit Sprache in Gedichten geschafft hätte. Damals, 1969, begriff ich: Ich BIN ein Komponist. Zwar ein sehr schlechter, aber immerhin ein Komponist. Später erlebte ich, dass man durch Lernen besser werden kann. Auch als Künstler.“ In den ersten zehn bis zwanzig Jahren seines Schaffens als Komponist sei seine prägendste Erfahrung der Misserfolg gewesen. „In meiner Wohnung in Graz standen zwei Klaviere, die im Vierteltonabstand gestimmt waren – ich galt daher als Spinner.“ Im besten Fall sei er ein „intellektueller, hochkomplizierter, im Grunde unsmusikalischer Avantgardist“ genannt worden. 
Interessanterweise haben die ersten Erfolge von Haas mit Vorarlberg zu tun: 1986 bekam er einen Kompositionsauftrag für ein Chorstück, später leitete er die Bludenzer Tage zeitgemäßer Musik – „dabei wurde ich geradezu verpflichtet, hier auch meine eigene Musik zu präsentieren.“ Der große Durchbruch gelang dem Komponisten mit seiner Oper „Nacht“, die 1996 bei den Bregenzer Festspielen uraufgeführt wurde. Seinen weiteren Werdegang beschreibt der Komponist als langsam, aber stetig. „Ich versuche, eine Musik zu schreiben, die ausdrucksstark und wohlklingend ist – nicht, obwohl sie neu ist, sondern weil sie neu ist. Wesentliche Unterstützung bekomme ich derzeit von meiner Ehefrau Mollena“, erklärt Haas, der sich mit seinen Werken „ehrlich und konsequent“ ausdrücken möchte.
Obwohl er schon lange im Ausland lebt, hat Haas Vorarlberg und Österreich den Rücken nie ganz zugekehrt: „Mein bester Freund lebt mit seiner Familie in Bludenz, wir stehen in regem Kontakt; wie auch mit meinem Bruder, dem Maler Roland Haas, der in Vorarlberg lebt.“ Er selbst kommt selten an die Orte seiner Kindheit und Jugend: „Vorarlberg war nie meine ‚Heimat‘. Ich habe mich hier immer als Fremder gefühlt. Allein schon durch die Religion war ich ausgeschlossen: Als Protestant in einem streng katholischen Umfeld. Ich habe auch die Sprache nie erlernt.“
Das Gefühl, ein „Fremder“ zu sein, mag auch mit seiner Familiengeschichte zu tun haben: Haas hat sich intensiv mit seiner Herkunftsfamilie beschäftigt und deren nationalsozialistische Gesinnung und Erziehung öffentlich gemacht. „Lange Zeit habe ich aus Scham darüber geschwiegen. Ich hatte Angst, Menschen, mit denen ich zu tun hatte, könnten mich hassen, weil meine Vorfahren an der Verfolgung und der Ermordung ihrer Vorfahren beteiligt waren. Mittlerweile habe ich begriffen, dass das Gegenteil davon wahr ist. Ich bin ein lebender Beweis dafür, dass man sich grundsätzlich ändern kann. Ich war mit dem Nazismus infiziert. Jetzt bin ich geheilt, und ich habe die Antikörper im Blut. Das macht vielen Menschen Hoffnung.“ Was ihn nach wie vor schmerzt, „sind die wenigen Reaktionen in Österreich darauf: Ich habe gehofft, dass viele Menschen aufstehen und bekennen, dass sie eine vergleichbare Wandlung gemacht haben.“ 

Verschobene Uraufführungen

Wann Haas und seine Frau in die Vereinigten Staaten zurückkehren können, ist unklar: „Ich betäube meinen Schmerz durch Komponieren. Rein äußerlich ist es sehr schön hier; meine Frau macht gerade den wöchentlichen Einkauf – nur eine Person pro Haushalt darf das Haus verlassen. Aber wir wissen weder, wann wir Marokko verlassen dürfen, noch wann wir heim nach New York zurückkehren können.“ Indessen hofft der Komponist, dass es bald wieder Konzerte und Opernaufführungen gibt – und dass „meine Werke, die wegen COVID-19 nicht uraufgeführt wurden, unter anderem ein abendfüllendes Tanztheater an der Deutschen Oper in Berlin und ein Orchesterwerk in Köln, bald präsentiert werden können.“ Haas plant, neben Werken in kleinerer Besetzung, auch wieder Außergewöhnliches: „Ein Stück für 50 Pianinos – jedes Klavier wird anders gestimmt sein – und Kammerorchester und drei Opern.“ 

Lebenslauf

Der Komponist Georg Friedrich Haas wurde am 16. August 1953 in Graz geboren, seine Kindheit und Jugend verbrachte er im Montafon. Nach dem Gymnasium in Bludenz studierte er von 1972 bis 1979 an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz Komposition, Klavier und Musikpädagogik. Von 1981 bis 1983 studierte Haas bei Friedrich Cerha in Wien. Später wurde er an die Musikakademie in Basel berufen und ist seit 2013 Professor an der Columbia University in New York, auf Lebenszeit. Georg Friedrich Haas lebt mit seiner Frau Mollena Lee Williams-Haas in New York. 

 

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