WALTER HÖMBERG

Walter Hörmberg war Lehrstuhlinhaber für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an den Universitäten Bamberg und Eichstätt und hat lange Zeit als Gastprofessor an der Universität Wien gelehrt. Er hat zahlreiche Studien zur Geschichte und Gegenwart des Journalismus veröffentlicht und ist Mitherausgeber des Bandes „Ich lass mir nicht den Mund verbieten! Journalisten als Wegbereiter für Pressefreiheit und Demokratie“, der soeben im Reclam Verlag erschienen ist.

Lob des einfachen Lebens

Juni 2020

„Walden“ von Henry David Thoreau – Zur Neuausgabe eines Klassikers

Die globale Corona-Krise war und ist eine große Herausforderung, sowohl für jeden Einzelnen als auch für die Gesellschaft insgesamt. Um die rasante Ausbreitung des Virus zu stoppen und einen Kollaps der nationalen Gesundheitssysteme zu verhindern, haben viele Länder Kontaktverbote und Ausgangssperren angeordnet, das öffentliche Leben wurde weitgehend lahmgelegt. Bei allen negativen Begleiterscheinungen und Konsequenzen – der Lockdown bot auch die Chance zu einer kollektiven Nachdenkpause. Ist unser Lebensstil, der geprägt ist von Mobilitätswahn, Technologieabhängigkeit und einer Ökonomisierung aller Bereiche, wirklich alternativlos?
Zu solchen Fragen regt auch ein altes Buch an, das soeben in neuer Übersetzung herausgekommen ist: „Walden oder Vom Leben im Wald“, verfasst von Henry David Thoreau. Der Autor berichtet über die Erfahrungen nach einer radikalen Wende in seinem Leben. Der Text, der erstmals 1854 in gedruckter Form in Boston erschienen ist, beginnt so: „Als ich das Folgende … niederschrieb, lebte ich allein im Wald, mehr als einen Kilometer vom nächsten Nachbarn entfernt, in einem selbst gezimmerten Haus am Ufer des Walden-Sees bei Concord, Massachusetts, und verdiente meinen Lebensunterhalt ausschließlich mit meiner Hände Arbeit. Zwei Jahre und zwei Monate habe ich dort zugebracht …“.

Hier zog also jemand nicht in ein schon gemachtes Nest, sondern begann Ende März 1845 mit einer geborgten Axt, eine Blockhütte aus frisch gefällten Weißtannen zu bauen. Der Leser erfährt in allen Einzelheiten von den Mühen dieser Aktion. Die Kosten sind akribisch aufgelistet – ebenso wie später die Kosten und Erträge für Kartoffeln, Mais und Erbsen auf den selbst angelegten und bewirtschafteten Feldern. Von Arbeitsteilung hält dieser Mann nichts – „der Vogel baut sich sein Nest ja auch selber.“ 

Das vorherige Leben im Telegrammstil: Geboren am 17. Juli 1817 als Sohn eines Bleistiftherstellers in Concord, studierte Henry David Thoreau nach dem Schulabschluss vier Jahre lang an der nahegelegenen Harvard University. Anschließend wechselnde Jobs, unter anderem als Lehrer und Landvermesser. Das Studium hatte ihn mit der Geschichte, mit Kultur und Sprachen vieler Regionen und Epochen vertraut gemacht. Aber ein „Selbstdenker“ ist er geblieben: Der Überdruss an den negativen Seiten der beginnenden Industrialisierung und die Abscheu vor der Entwicklung der Zivilisation waren die Hauptmotive für seinen Rückzug in die Wälder, der exakt am 4. Juli 1845, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, begann.

„Wo ich lebte und wofür“ – das zweite von den 18 Kapiteln seines Werkes zeigt deutlich, dass neben der Zivilisationskritik auch die Liebe zur Natur eine der Antriebsfedern für diese radikale Lebenswende war. Die Beschreibungen der Landschaft und des nahegelegenen Sees sowie die Beobachtung der Fauna und Flora im Wandel der Jahreszeiten zeugen von einer sensiblen Naturwahrnehmung. 
Die anschaulichen Schilderungen der Naturphänomene füllen viele Seiten. Sie werden angereichert durch mannigfache Reminiszenzen an philosophische Vordenker und literarische Vorbilder. Die Klassiker der Antike – Homer und Aischylos, Ovid und Vergil – sind für Thoreau ebenso präsent wie die Hauptschriften der Weltreligionen und große Namen der europäischen Literatur wie Milton, Shakespeare und Walter Scott. Wenn er sich darauf bezieht, dann geht es nicht um „bildungshuberisches“ Namedropping, sondern um Anregungen zum Weiterdenken. Rückerinnerung als Vorwärtsimpuls also. Insgesamt gilt für ihn das Erfahrungswissen mehr als das Buchwissen. 
So sehr dieser Autor sonst gedruckte Bücher schätzt – während des Hausbaus lag die „Ilias“ immer in Griffweite –, am liebsten liest er im Buch der Natur. Seine Beschreibungen von Himmelserscheinungen und Erdphänomenen, seine präzisen Berichte über Tiere und Pflanzen begründen eine neue Gattung in der amerikanischen Literatur: die Naturessayistik. Zusammen mit Ralph Waldo Emerson, der nach Thoreaus frühem Tod am 6. Mai 1862 einen kenntnisreichen Nachruf auf den Freund verfasst hat, gehört der Verfasser von „Walden“ zu den wichtigsten Autoren des amerikanischen Transzendentalismus. Diese philosophische und literarische Bewegung setzt sich ab vom Rationalismus der Aufklärungszeit und betont die Einheit allen Seins. 

Die vorliegende Neuausgabe überzeugt sowohl durch den hervorragenden Kommentar von Susanne Ostwald als auch durch die bibliophile Gestaltung, für die die Bände der Manesse Bibliothek ja bekannt sind. Das Buch dokumentiert eindrucksvoll, wie ein Einzelgänger sich gegen den Mainstream seiner Zeit stellt. Thoreau beschreibt Glanz und Elend des „social distancing“. Auch wenn manche Ansichten des Verfassers eher schrullig wirken, so kann sein Lob des einfachen Lebens zum Nachdenken und in manchen Punkten auch zur Nachahmung anregen. Der Autor will jedoch keinen Handlungsdruck auf seine Leser ausüben – „jeder soll nach gründlicher Überlegung seinen eigenen Weg finden und verfolgen.“ Und im Schlusskapitel wiederholt Thoreau die antike Botschaft vom Apollotempel in Delphi: „Erkenne dich selbst!“

Buchtipp

Henry David Thoreau
Walden oder Vom Leben im Wald. 
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Fritz Güttinger. Überarbeitete Neuausgabe. Kommentiert und mit einem Nachwort von Susanne Ostwald. München: Manesse Verlag 2020, 600 Seiten

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