Herbert Motter

Ohne Worte – die Erzählkraft der Musik

Mai 2017

Oft schon ist einem jeden von uns das Zitat unterkommen, wonach die Musik dort anfängt, wo Worte aufhören. Der französische Schriftsteller Victor Hugo hat dies noch stimmiger formuliert: „Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.“ Die Musik vermag also zu erzählen, als Klang, als Ausdruck, als eine bestimmte Abfolge von Tönen. Dramaturgin Susanne Stähr hat vor wenigen Wochen dieser Erzählkraft der Musik einen Vortrag im Montagsforum gewidmet.

Musik braucht weder zwingend das Wort noch das Auge, um eine Botschaft zu übermitteln. Sie benötigt allein das Ohr, unser offenes Ohr. Musikwissenschaftlerin und Dramaturgin Susanne Stähr machte vor wenigen Wochen den Zuhörern des Montagsforums mit Klangbeispielen deutlich, was die Musik alles zu erzählen weiß.

„Und dabei kann ihre Aussage erstaunlich eindeutig sein“, weiß Susanne Stähr und lässt Ludwig van Beethoven erklingen. Die Siegessinfonie aus seiner Bühnenmusik zu Goethes „Egmont“. Es wird schnell klar, Beethoven verwendet alle musikalischen Stilmittel, die als Zeichen für einen Triumph und für den Jubel gelten: die Fanfaren in den Blechbläsern, die simplen Dreiklangsschritte, den rhythmischen Elan, die ekstatischen Tonrepetitionen, das feurige Tempo „Allegro con brio“, die strahlende Tonart C-Dur. Aber was ist die Musik? Und was will sie? Als Musikwissenschaftlerin suche man konkrete Antworten auf diese Fragen. „Wenn man sich mit einer Definition beschäftigt, dann handelt es sich bei der Tonkunst – so spröde das jetzt auch klingt – zunächst einmal um eine Reihe von organisierten Schallereignissen.“

Vorbild Natur

Die ersten Vorbilder dafür fanden die Ururahnen in der Natur: im Gesang der Vögel, in den Rufen der Tiere, im Rauschen des Windes und der Wellen, im Krachen des Donners. Die wahrscheinlich älteste Musik der Menschheitsgeschichte dürfte, so Stähr, die Imitation dieser Klänge gewesen sein. Anfangs allein durch die menschliche Stimme, dann aber auch durch Erfindung immer neuer Instrumente, zunächst mit knöchernen und hölzernen Flöten, mit Trommeln und anderen Schlaginstrumenten, und später mit Saiten- und Zupfinstrumenten wie den Leiern und den Harfen.

„Als sich im späten Mittelalter das zu entwickeln begann, was die Grundlage unserer heutigen Musik bildet, nämlich die Mehrstimmigkeit, da war die Imitation von Naturphänomenen jedenfalls bald eines der beliebtesten musikalischen Mittel, wenn es darum ging, die Hörer zu verblüffen und ihre Phantasie in die richtigen Bahnen zu lenken“, verweist die Musikwissenschaftlern darauf, dass auch später, als die Musik längst nicht mehr allein in Schlössern und Kirchen zu Hause war, sondern schon das Bürgertum und den modernen Konzertsaal erobert hatte, musikalische Naturdarstellungen noch immer zu den favorisierten Disziplinen gehörten. Antonio Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ zeugen eindrucksvoll davon. Stähr nennt ihn den Urvater der musikalischen Meteorologie. „Mit seinem Konzertzyklus „Die vier Jahreszeiten“ hat er alle erdenklichen Wetterlagen in Musik übertragen, vom lauen Frühlingslüftchen bis zum klirrenden Winterfrost.

Beliebtes Propaganda-Instrument

Für Susanne Stähr ist die musikalische Botschaft besonders auch der Vokalmusik vielfach unendlich stärker als die Bedeutung des Worts, ja, sie überlagert es regelrecht: „Genau deshalb, weil die Musik eine so ungeheuer starke Sprache ist und direkt auf unser Gemüt einwirkt, ohne dass wir unseren Intellekt bemühen müssen, um sie zu verstehen – genau deshalb wurde die Musik auch zu einem beliebten Propaganda-Instrument.“

Seit jeher wurden Soldaten mit schönen Tänzen und schmissigen Lieder fürs Militär akquiriert. Mit strammer Marschmusik schickte man sie aufs Feld und in den Tod. Keine Diktatur, die nicht die magische Kraft der Musik für ihre Zwecke missbraucht hätte. Stähr macht das anhand des Beispiels aus der stalinistischen Sowjetunion deutlich und erklärt: „Damals entwickelte man sogar eine Staatsdoktrin, eine Leitkultur, wie die Musik zu klingen habe: Ohne Dissonanzen sollte sie sein, leicht verständlich, schöne Lieder für die Volksmassen. Und wehe dem, der sich widersetzte. Der galt dann als dekadent und verwestlicht, der musste sogar um sein Leben fürchten.“

Musik kann also Vieles leisten, was man eigentlich nur dem Wort, der Sprache oder der Erzählung zugesteht. Musik kann übrigens auch Witze erzählen. Joseph Haydn war ein Großmeister in dieser Disziplin, er garnierte seine Sinfonien mit allerlei Verblüffungseffekten, die das zeitgenössische Publikum in die Irre leiteten oder aufs Korn nahmen. Auch Wolfgang Amadeus Mozart verstand sich gut auf die Kunst des musikalischen Witzes. Die Komik entsteht dadurch, dass die Erwartungen durchkreuzt werden und das Publikum etwas zu hören bekommt, dass nach seinem Empfinden falsch klingt. Stährs Fazit nach über einer Stunde belegbarer Erzählkraft: „Die Musik kann alles ausdrücken – Freude und Leid, Hass und Liebe, Witz und Ernst. Sie kann Geschichten erzählen, sie kann lügen oder höhere Wahrheiten verkünden. Und sie ist eine glänzende Imitatorin. Vor allem aber ist die Musik eine Kunst der Seele, die uns berühren und erschüttern, beglücken und euphorisieren kann wie keine zweite.“

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