WALTER HÖMBERG

Walter Hörmberg war Lehrstuhlinhaber für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an den Universitäten Bamberg und Eichstätt und hat lange Zeit als Gastprofessor an der Universität Wien gelehrt. Er hat zahlreiche Studien zur Geschichte und Gegenwart des Journalismus veröffentlicht und ist Mitherausgeber des Bandes „Ich lass mir nicht den Mund verbieten! Journalisten als Wegbereiter für Pressefreiheit und Demokratie“, der soeben im Reclam Verlag erschienen ist.

Streitbar und umstritten

Oktober 2020

Karl Kraus: Publizist, Lyriker, Dramatiker

Die einen verehren ihn als größten Satiriker des 20. Jahrhunderts, als brillanten Zeitdiagnostiker, sensiblen Lyriker und hellsichtigen Theaterautor. Für andere ist er ein gnadenloser Polemiker, ein unbarmherziger Spötter, ein heilloser Egozentriker, Besserwisser und Rechthaber. Jens Malte Fischer versucht in seiner kürzlich erschienenen Biografie allen Seiten von Karl Kraus gerecht zu werden. Der Verfasser war Professor für Theaterwissenschaft an der Universität München. Auf Karl Kraus ist er gleich zu Beginn seines Studiums gestoßen. Dieser Mann hat ihn nicht losgelassen, und ihm und seinem Werk hat er dann auch seine Dissertation gewidmet. Inzwischen emeritiert, legt Fischer in seinem ziegelsteindicken Buch die Summe jahrzehntelanger Beschäftigung mit seinem Protagonisten vor.
Das Leben von Karl Kraus im Telegrammstil: Geboren am 28. April 1874 in Jitschin, einer Kleinstadt nordöstlich von Prag, als neuntes von zehn Kindern des Kaufmanns Jacob Kraus und seiner Ehefrau Ernestine. Drei Jahre später Umzug der Familie nach Wien. Dort Besuch des Franz-Josephs-Gymnasiums. Studium an der Universität Wien: zunächst Rechtswissenschaft (abgeschlossen mit dem Ersten juristischen Staatsexamen), später noch Romanische Philologie und Germanistik (ohne Abschluss). Schon als 18-Jähriger schreibt er Kulturberichte und Rezensionen für österreichische und deutsche Blätter. Im April 1899 Gründung der Zeitschrift „Die Fackel“, die er bis kurz vor seinem Tod am 12. Juni 1936 redaktionell verantwortet. 
Die „Fackel“ ist ein Unikat in der Pressegeschichte. Sie erschien zunächst dreimal im Monat, später dann unregelmäßig und mit wechselndem Umfang über einen Zeitraum von 37 Jahren. Am Beginn wurden nicht nur Beiträge von Kraus selbst gedruckt, sondern auch von anderen Autoren wie Peter Altenberg, Egon Friedell, Adolf Loos und Frank Wedekind. Ab 1912 wollte er dann keine anderen Autoren mehr neben sich haben. Insgesamt umfasst die Fackel etwa 20.000 Seiten. Sie verkörpert wie kaum ein anderes Blatt den Typ der Individualzeitschrift und wurde konsequenterweise nach dem Tod des Gründers nicht fortgeführt. 
Kraus, der seine Artikel in winziger Schrift mit Tinte und einem altmodischen Federhalter verfasste, war eine Kämpfernatur. Seine Hauptfeinde sah er in der zeitgenössischen Presse, insbesondere im Leibblatt des liberalen Bürgertum Wiens, der „Neuen Freien Presse“. Schon in der ersten Ausgabe der „Fackel“ wird „eine Trockenlegung des weiten Phrasensumpfes“ als Ziel genannt. Nicht „Was wir bringen“, sondern „Was wir umbringen“ sei relevant. 
Der Kampf gegen die Presse wurde an zwei Fronten geführt. Zum einen kritisierte Kraus die Abhängigkeit vom Anzeigengeschäft, die zu einem Gefälligkeitsjournalismus und auch zur Korruption führen kann. Zum anderen kämpfte der sprechsensible Publizist gegen den Phrasenmüll in der Berichterstattung: „Die Welt ist taub vom Tonfall. Ich habe die Überzeugung, daß die Ereignisse sich gar nicht mehr ereignen, sondern daß die Klischees selbsttätig fortarbeiten.“ Und weiter: „Die Sache ist von der Sprache angefault. Die Zeit stinkt schon von der Phrase.“ Der Feuilletonismus, der sich in der zeitgenössischen Presse breit gemacht hatte, war ihm zuwider. Sein später häufig zitierter Aphorismus bringt es auf den Punkt: „Ein Feuilleton schreiben heißt auf einer Glatze Locken drehen.“ 
Auf einen Gegner hatte Kraus es besonders abgesehen: Imre Békessy. 1887 in Budapest geboren, war dieser Anfang der 1920-er Jahre nach Wien gekommen und hatte dort einige Zeitungen gegründet. Am erfolgreichsten war ein Tagblatt mit dem Titel „Die Stunde“. Es lebte von Klatsch und Tratsch und von Skandalen. Der Boulevardjournalist Békessy verdiente sein Geld allerdings nicht nur durch die Veröffentlichungen, sondern auch durch das Gegenteil: Er selbst und seine Leute setzten Prominente mit Skandalgeschichten unter Druck und versprachen, diese gegen ein saftiges Schweigegeld nicht zu publizieren. Dieser skrupellose Erpresserjournalismus war für Kraus natürlich ein ideales Ziel. Es gelang ihm schließlich, den Urheber zum Aufgeben zu bringen: Békessy flüchtete zunächst nach Frankreich und kehrte später nach Ungarn zurück.
Der Biograf hätte sein – im doppelten Wortsinn – erschöpfendes Buch leicht straffen können, wenn er auf einige Redundanzen verzichtet und nicht jede Person, mit der Kraus Kontakt hatte, ausgiebig vorgestellt hätte. Eine Kontaktperson von Bedeutung vermisse ich allerdings: Arthur Schütz, den Erfinder der „Grubenhunde“, der Falschmeldungen lancierte, die jedem Redakteur mit gesundem Menschenverstand hätten auffallen müssen. Kraus war hier sein Vorläufer. Die „Fackel“ berichtete sowohl über den Ur-Grubenhund, als auch über seine jüngere Schwester, die Laufkatze. Und eine Sammlung der „Grubenhunde“ von Schütz erschien dann 1931 im Verlag Jahoda & Siegel, dem Stammverlag der „Fackel“.
Karl Kraus war nicht nur ein unermüdlicher Publizist, sondern auch ein exzessiver Briefeschreiber. Allein an die von ihm angebetete Sidonie Nádherný von Borutin hat er mehr als tausend Briefe, Karten und Telegramme geschickt. Ihr hat er auch viele Gedichte gewidmet. Der Lyriker Kraus bleibt im Übrigen noch zu entdecken. Immerhin hat er zwischen 1916 und 1930 neun Gedichtbände veröffentlicht, wie er überhaupt viele Bücher aus „Fackel“-Texten zusammenstellte. Die meisten seiner Gedichte sind in traditionellen Formen verfasst und favorisieren den Endreim. In einer Zeit, die vom Expressionismus und Dadaismus geprägt war, wirken sie stark konventionell. 
Last but not least: Karl Kraus war ein unermüdlicher Vorleser: Insgesamt 700 Mal hat er vor großem Publikum sowohl aus eigenen Texten als auch aus Werken von Shakespeare, Offenbach, Nestroy und anderen Dramatikern vorgetragen. Sein eigenes Antikriegs-Drama „Die letzten Tage der Menschheit“ galt wegen seines monströsen Umfangs als unspielbar, erlebte dann aber doch in gekürzter Form zahlreiche Aufführungen.

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