Claudio Bechter

Claudio Bechter * 1985 in Feldkirch, hat Germanistik mit Schwerpunkt Literaturwissenschaft sowie Europäische Ethnologie an der Universität Innsbruck studiert und ist freier Journalist und Literaturvermittler. 

Von der Erforschung der Dinge

September 2020

Das kürzlich mitgebrachte Souvenir aus dem Sommerurlaub, ein altes Schul­heft auf dem Dachboden, unser ständiger Wegbegleiter, das Smartphone:
Wir umgeben uns mit Dingen. Viele von ihnen sind uns wertvoll und besitzenswert, andere hingegen erscheinen uns lästig und entbehrlich.
Trotz der immer lauter werdenden Rufe nach einem differenzierteren Konsum­verhalten haben Dinge nach wie vor wichtige Funktionen für unseren Alltag.

Während in vormodernen Gesellschaften sich die Menschen meist nur mit dem Nötigsten ausstatteten, besitzt eine heutige Europäerin einer aktuellen Statistik zur Folge im Durchschnitt rund 10.000 Gegenstände. In großen Warenhäusern werden bisweilen gar 150.000 bis 300.000 Gegenstände feilgeboten. Scheinbar explosionsartig hat sich die Zahl der Gegenstände über die letzten drei Generationen vervielfacht. Die Vielzahl der Dinge, die wir heute besitzen, ist auf einen gewissen Differenzierungsprozess zurückzuführen, das heißt auf die Umwandlung von universellen zu spezialisierten Gegenständen. Unser westlicher Industriekapitalismus produziert immer mehr Dinge, die nicht mehr so sehr durch ihre Funktion, sondern vielmehr durch ihre Bedeutung und Symbolik gekennzeichnet sind. 
Weniger ist mehr, lautet daher seit einigen Jahren für viele die Devise, Minimalismus statt übermäßigem Konsum. Einst in den 1960er-Jahren noch als Inbegriff jener Kunstströmung, die für Reduktion, Objektivität und klare Formen und Linien stand, gilt der Minimalismus heute längst als alternativer Lebensstil zur konsumorientierten Überflussgesellschaft. Bereits 2013 erlangte der Berliner Sebastian Küpers breite Aufmerksamkeit, als er in seinem Blog davon berichtete, dass er nur noch mit 100 Dingen zu leben versuche. Er befürchtete Unverständnis; doch von allen Seiten erntete er Anerkennung. Scheinbar hatte er den Puls der Zeit getroffen. Heute – rund sieben Jahre nach Küpers Experiment – erfreut sich der Minimalismus einer wachsenden Anhängerschaft. Immer mehr Menschen verzichten auf das Unnötigste, weil sie der Ansicht sind, übermäßiger Besitz trübe den Blick auf das Wesentliche. 
Oft wird dabei jedoch vergessen, dass Dinge weit über ihren Selbstzweck hinaus existieren. So werden uns Dinge vertraut, erinnern uns an tolle Zeiten, besondere Momente, an Menschen. Sie geben unserem Leben Ordnung, dienen als Anker zum Festhalten und sind Bestandteil des selbstverständlichen „Sich-Zurecht-Findens“ im alltäglichen Sein. Oder um es nach den Worten des Kunsthistorikers und -pädagogen Gerte Selle zu beschreiben: „Dinge dringen so tief in unser Leben ein, dass man behaupten darf, es lebe sich durch sie.“ Weniger verwunderlich daher, dass die Beschäftigung mit dem Materiellen auch in der Wissenschaft Konjunktur hat. Insbesondere die Soziologie und die Kulturwissenschaften erhalten durch die Auseinandersetzung mit den vielfältigen Aspekten der Mensch-Dinge-Beziehung wichtige Informationen über die alltäglichen Wahrnehmungs- und Handlungsweisen von Menschen und damit eben auch zu Kultur; denn Dinge spielen nicht nur eine wesentliche Rolle für die Identität jedes Einzelnen, sondern sind konstitutiv für eine ganze Gesellschaft. In ihnen verewigen sich Denkweisen, Wertvorstellungen und Nutzungsformen, die in Gespräch oder Gebrauch so rasch wieder verschwunden sind, wie wir sie zitieren oder anwenden können. Die Ästhetik eines Schmuckstückes, die architektonische Gestaltung einer Hausfassade oder der abgenutzte Stil eines Hammers, alles Indizien und Spuren kultureller Tätigkeit einer Gesellschaft, die sich mit Stimmen oder Text kaum festhalten lassen. 

Wir erkennen uns in den Dingen, die wir besitzen, wusste schon der Philosoph Jean-Paul Sartre.

Ein konkretes Beispiel: Kehren wir zu unserem eingangs erwähnten Schulheft zurück – zunächst in seiner Materialität ein scheinbar simples Ding ohne wesentliche Bedeutung. Doch das Heft erzeugt über seine Materialität hinaus Informationen kultureller Tätigkeit, etwa über die Einführung der Schulpflicht oder die Bedeutung der schriftlichen Fixierung von Informationen und Wissensbeständen im Allgemeinen. Das Schulheft beinhaltet aber auch individuelle Zuschreibungen, es weckt Emotionen und Erinnerungen: die Aufregung am ersten Schultag, der frustrierende Moment bei der gefühlt hundertsten Wiederholung eines Buchstabens oder die Freude über den Smiley der Lehrerin als Reaktion auf die gelungene Hausübung. Erst durch den Verwendungskontext und die Nutzungsform erhält das Schulheft gewisse Zuschreibungen, eine Bedeutung, ohne diese das Heft lediglich ein in Form gebrachtes Stück Zellulose bliebe. Demnach besitzen Dinge keine eigene Qualität. Sie sind bloße Atome, die erst durch die Bedeutungszuschreibung der Menschen den Wert erlangen. Auf unserem Heft klebt zwar ein Preisschild, der eigentliche Wert dieses Heftes wird jedoch erst durch Systeme von Bedeutung konstituiert. Das heißt, Dinge sind immer eine Form der Kommunikation, sie haben sozusagen eine Sprache. Sie lassen uns Teil einer Gruppe oder eines sozialen Raums sein und sind daher ein zentrales Mittel der Vergesellschaftung. 
Gerade die Forschung erfasst Dinge aber weit über ihre Bedeutung bzw. ihren Nutzen hinaus. Dinge sind Aktanten. Sie gestalten und formen unser Leben aktiv. Der moderne Mensch ist aus diesem Grund nicht mehr ohne Dinge zu denken. Wir machen nicht nur etwas mit Dingen, sondern Dinge machen etwas mit uns. Das heißt, nicht nur wir bestimmen die Dinge, sondern die Dinge bestimmen auch uns. Denn was wäre etwa ein Brillenträger ohne seine Brille oder ein Sportler ohne seine Sportschuhe? Diese Gegensätzlichkeit kann durchaus nachvollzogen werden: Man geht in Sandalen anders als in Stöckelschuhen; man sitzt auf einem Barhocker anders als auf einer Couch oder – um nochmals auf unser Schulheft zurückzukommen – auf Papier schreibt es sich anders als beispielsweise auf Schiefer. Dinge sind demzufolge Teil unserer Persönlichkeit und beeinflussen unser Verhalten sowie unsere Körperlichkeit – eine Perspektive, die den Minimalisten wohl gröbere Kopfschmerzen bereiten würde, aber eben auch eine Perspektive, die letztlich wenig mit Wohlstandsdenken zu tun hat, sondern vielmehr mit dem tiefen Bedürfnis in uns, Erinnerungen, Werte und Erfahrungen in Objekten zu speichern. Wir erkennen uns in den Dingen, die wir besitzen, wusste schon der französische Philosoph Jean-Paul Sartre. Und auch heute noch ist sich die Wissenschaft darüber einig: Dinge und Beziehungen zu Dingen sind ein Grundelement menschlicher Kommunikation und sozialer Teilhabe.

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