
„Wir lassen uns heute viel mehr gefallen“
Dauernd nur vernünftig zu sein, sei nicht wirklich vernünftig, sagt Philosoph Robert Pfaller (52) im Interview mit „Thema Vorarlberg“. Pfaller will, ganz im Gegenteil, „Momente freudiger Unvernunft“ genießen und stellt sich auch damit klar gegen die immer stärker werdende Verbotsgesellschaft.
Sie schreiben, dass man sich kindische Dummheiten gönnen müsse. Ansonsten sei das Leben nicht lebenswert. Das bedarf dann doch einer Erläuterung …
Robert Pfaller: Wenn man zum Beispiel dauernd nur gesunde Sachen isst, dann führt das nicht nur zu einem Verlust an Lebensqualität und Geselligkeit, es ist nicht einmal gesund. Ärzte berichten inzwischen von einem neuen, durch übergesunde Ernährung entstandenen Krankheitsbild – der Orthorexie. Erwachsene, mündige, vernünftige Menschen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich ab und zu Momente freudiger Unvernunft gönnen können. Dauernd nur vernünftig zu sein hingegen ist typisch für altkluge Kinder; es ist etwas überaus Infantiles. Was aber wäre unser Leben ohne die Ausgelassenheiten unserer Partys, die Zeitverschwendung unserer Spaziergänge und Gespräche, die Verrücktheiten der Liebe, ohne die Trunkenheiten oder die Begeisterungen angesichts von Kino oder Fußball? Der schöne Text „Lob der Narrheit“ des Erasmus von Rotterdam könnte unserer altklugen Kultur diesbezüglich als lehrreiches Korrektiv dienen.
Die neoliberale Kultur, sagen Sie, verdrängt die Lust. Ist Askese statt Exzess das Programm?
Nun, das Programm ist zunächst, den gesamten kollektiven Besitz der Gesellschaft zu privatisieren. Kulturell wird dies begleitet durch die Bestrebungen, Geselligkeit und sozialen Zusammenhalt zu zerstören. Das Glück des jeweils anderen wird zunehmend als Ärgernis und Bedrohung dargestellt – und nicht mehr als etwas solidarisch Teilbares, worin ich es als mein eigenes Glück erleben kann, dass der andere Glück empfindet. Zu dieser Propaganda gehört es, den Genuss des anderen als haltlosen Exzess zu dämonisieren – etwa durch die „Reality“-Shows im Fernsehen, in denen wir die Sturzbetrunkenen in Provinzdiskotheken oder die Komatrinker in den Städten gezeigt bekommen.
Wie weit ist die Verbotsgesellschaft in Österreich denn schon fortgeschritten?
Das Entscheidende ist nicht, wie viele Verbote es gibt, sondern vielmehr, wem etwas verboten wird. Den Einzelnen zum Beispiel das Rauchen oder das Parfümiertsein zu verbieten, ist zynisch und lächerlich – insbesondere wenn europäische Regierungen gleichzeitig geheim ausgehandelte transatlantische Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada abschließen (TTIP und CETA), durch die das Trinkwasser privatisiert werden kann und die Qualitätsstandards bei den Lebensmitteln drastisch gesenkt werden können. Meine Besorgnis ist, dass Verbote sich zunehmend nur noch gegen die harmlosen Vergnügungen der Einzelnen richten, aber nicht gegen die gefährlichen und rücksichtslosen Ansprüche transnationaler Konzerne. Die pedantischen Regelungen im Kleinen sollen von der Fahrlässigkeit im Großen ablenken.
In welchen Bereichen werden bürgerliche Freiheiten beschnitten? Konkret?
Wenn zum Beispiel durch transatlantische Freihandelsabkommen private Konzerne das Recht bekommen, Staaten zu verklagen, wenn deren Bürger bestimmte, den Konzerninteressen widerstrebende Gesetze beschließen, so ist dies ein eklatanter Eingriff in die bürgerliche Freiheit des demokratischen Entscheidens. Bei anderen bevormundenden Vorstößen der Bürokratie wurden zusammen mit den Freiheiten auch elementare Lebensqualitäten beseitigt. Durch die Bologna-Reform hat man die meisten Universitätsstudien zu überregulierten Attrappen gemacht, in denen 90 Prozent der studentischen Aufmerksamkeit durch die formalen Bedingungen (Prüfungen, Fristen, Punkte) geschluckt werden, wohingegen höchstens zehn Prozent noch auf die Inhalte verwendet werden können. Ständig wird kontrolliert und geprüft und evaluiert, anstatt den Leuten Gelegenheit zu geben, ihr Denken eigenständig zu entwickeln. Die Universität als Raum neugierigen Nachdenkens und gesellschaftlicher Selbstreflexion wurde durch die Reformen so gut wie zerstört. Statt eines echten Studiums bekommen die Leute heute nur noch formale Abschlüsse, mit denen sie dann meist nichts anfangen können.
Kritiker ärgert die zunehmende Bevormundung, diese Infantilisierung der Gesellschaft, diese Pädagogik mit erhobenem Zeigefinger. Andere sehen das relativ. Früher war mehr verboten, heißt es da. In Vorarlberg, nur um ein Beispiel zu nennen, galt in den 1960ern gar ein gesetzliches Verbot, Twist zu tanzen …
Wir sollten die rührenden Verbote, die kultureller und politischer Rückständigkeit geschuldet waren, nicht in einem Atemzug nennen mit den viel gefährlicheren, listigeren, sich human und modern gebenden Verboten und Regulierungen, mit denen die aktuellen neoliberalen Umverteilungen abgesichert werden. Dass ein Twist-Verbot früher oder später vom Wind der Zeit hinweggefegt werden wird (wie übrigens auch der Twist selbst), ist klar. Aber ob die moralisierenden und gesundheitsreligiös begründeten Verbote von heute noch jemals auf einen solchen Sturm treffen, sofern er nicht von uns, den empörten Betroffenen, erzeugt wird, scheint mir zweifelhaft.
Ist es ein Irrtum, zu glauben, dass sich die Menschen früher mehr gefallen ließen?
Dass der Grad der Selbstbestimmung heute ein höherer ist?
Mein Eindruck ist der entgegengesetzte. Wir lassen uns heute viel mehr gefallen. Denn wir erleben die Verbote als unsere ureigensten Wünsche nach Befreiung, Anerkennung oder Schutz. Wenn frühere Generationen nicht aufgemuckt haben, dann deshalb, weil sie diszipliniert waren und Respekt vor Autorität hatten. Wir hingegen bejahen das Repressivwerden der Gesellschaft geradezu als Ausdruck unserer Selbstverwirklichung, weil wir selbst immer kleinkarierter empfinden.
In einem Interview sagten Sie jüngst, dass wir in einem Zeitalter des Neobiedermeier leben. Wer sind die Träger dieses Neobiedermeiers? Wer verfügt, was wir tun und fühlen sollen?
Das ist ein Missverständnis. Vor dem Biedermeier habe ich großen Respekt. Das Biedermeier war eine vorrevolutionäre Epoche, in der die Menschen aufgrund härtester polizeilicher Repression zu versteckteren, privateren Möglichkeiten der Versammlung und Kritik greifen mussten. Davon könnte unsere Gegenwart einiges lernen. Die Verbotspolitik geht meist von einer aggressiven Bürokratie aus. Dort, wo die Politik es verabsäumt, Entscheidungen zu treffen, macht die Bürokratie scheinbar unpolitische Vorgaben und verschafft sich dadurch Macht und Ausbreitung. Von jedem Verbot lebt schließlich mindestens eine ganze Abteilung.
„Wir lassen uns wie Kinder behandeln – obwohl wir meistens sogar energisch protestieren, wenn Kinder so autoritär behandelt werden.“ Das schreiben Sie in Ihrem Buch „Wofür es sich zu leben lohnt“. Die Gesamtheit der unvernünftigen Genüsse ist es, sagen Sie sinngemäß, wofür es sich zu leben lohnt. Lebt denn der, der sich in Zurückhaltung übt, ein falsches Leben?
Vernunft, die ihren Namen verdient, besteht darin, abwägen zu können, wo man vernünftig sein soll und wo das Vernünftigsein nichts verloren hat. Wichtig ist das Abwägende dieser Entscheidungen, nicht so sehr ihr Ausgang. Es kann auch vernünftige Zurückhaltungsstrategien geben – genauso wie vernünftige Verausgabungsstrategien oder Kombinationen beider. Es soll nur nicht, wie derzeit meistens, panisch agiert werden, indem man irgendein Prinzip verabsolutiert: Wenn man um jeden Preis gesund sein muss, dann ist das nicht vernünftig – ja, es ist nicht einmal gesund.
Was meinen Sie mit dem interessanten Ausdruck „Glücksfurcht“?
Es besteht eine verbreitete Annahme, der zufolge Menschen stets nach Lust streben und nur durch mühsame Erziehung für höhere Aufgaben gewonnen werden können. Die Erfahrungen der Gegenwartskultur scheinen mir aber das Gegenteil zu beweisen. Menschen lassen sich sehr leicht gegen ihr Glück und das Glück anderer aufhetzen und sind oft sogar noch froh, die entsprechenden Praktiken verboten zu bekommen. An allem, was große Freude macht, gibt es immer ein ungutes Element: Alkohol trinken berauscht, Party feiern kostet Zeit und Geld, Sport kostet Überwindung, selbst Spazierengehen ist Zeitverschwendung. Darum werden solche Dinge nicht nur genossen, sondern auch in gewisser Weise gefürchtet. Um so etwas genießen zu können, muss man jeweils eine bestimmte vernünftige Schranke überwinden, die wir sonst, im übrigen Leben, respektieren. Um diese Überwindung zu schaffen, brauchen Menschen aber meist eine Art von kulturellem Befehl. Wenn ich zum Beispiel in eine Bar komme, in der gedämpftes Licht herrscht und leiser, cooler Jazz gespielt wird, höre ich gleichsam eine Stimme, die zu mir sagt: „Jetzt benimm dich nicht wie ein Kind und bestell dir ja kein Mineralwasser.“ Ohne solche Aufforderungen verkümmert die Genussfähigkeit der Menschen recht schnell.
Ein charakteristisches Symptom der Glücksfurcht in unserer Epoche scheint mir auch zu sein, dass Individuen gerade solche Gebote der Geselligkeit, die ihnen zu Glückserfahrungen verhelfen könnten, gerne schnell als „normierend“ oder „fremdbestimmt“ zurückweisen. Weil sie glauben, dass es ihnen am besten ginge, wenn sie ganz sie selbst sind, wehren sich postmoderne Menschen gegen alles, was sie gesellig und zivilisiert – und in der Folge glücklich – macht. Zum Glück gehört es aber eben, sich auf ein bisschen Nicht-ganz-man-selbst-Sein einzulassen.
Vielen Dank für das Gespräch!
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