Dennis Vetter

Geboren 1994 in Lustenau, hat Internationale Beziehungen mit einem Fokus auf Arabische Sprache, Kultur, und Politik studiert. Nach beinahe zehn Jahren außerhalb Vorarlbergs, die Hälfte davon im Ausland, arbeitet er nun als Referent für die Industriellenvereinigung (IV) Vorarlberg, wo er sich mit wirtschaftlichen und politischen Trends beschäftigt.

Welche Farbe hab‘ ich für dich?

Oktober 2020

Alle Menschen denken verschieden, aber manche denken verschiedener. Eine kurze Exkursion in die seltsame Welt lauter Gerüche, duftender Zahlen und bunter Menschen.

Was haben Franz Liszt, Billy Joel, Nikola Tesla, Kanye West, Vincent van Gogh und Lady Gaga gemeinsam? Mit der Antwort auf diese Frage verhält es sich wie mit der Insel, die nicht gefunden werden kann, außer von denen, die wissen, wo sie liegt. Soll heißen: Wenn Sie es nicht wissen, kommen Sie nicht darauf. Bevor Sie also Vergleiche anstellen oder sich darüber echauffieren, dass ewige Größen aus Wissenschaft und Kultur in einem Satz mit exzentrischen Rappern und Pop-Ikonen genannt werden, hier des Rätsels Lösung: Sie alle sind, respektive waren, Synästheten. Falls Sie jetzt nicht wissen, was das heißt, ist das in Ordnung. Sofern Sie nicht selbst Synästhet sind und auch keinen kennen, ist es wahrscheinlich unwahrscheinlich, dass Sie jemals über diesen Begriff gestolpert sind.
Synästhesie ist ein neurologisches Phänomen, das verschiedene Sinnesempfinden miteinander verflechtet. Billy Joel hört Musik nicht nur, er sieht sie auch – vor seinem inneren Auge in Form verschiedenster Farben. Es darf angenommen werden, dass das musikalische Schaffen dadurch erheblich erleichtert wird, insofern gereicht Synästhesie den Betroffenen meist zum Vorteil. 
Vor dem Versuch, Ihnen ein praktisches Beispiel zu malen, ein wenig Theorie: Der Begriff selbst setzt sich zusammen aus den altgriechischen Wörtern „syn“ (zusammen) und „aisthesis“ (Empfinden). Neuronale Verbindungen sorgen in Folge einer Wahrnehmung dafür, dass bestimmte Gehirnareale aktiviert werden, die bei den meisten Menschen unbeteiligt bleiben. Die Forschung hat bisher etwa 70 Formen dokumentiert und geht von einer Erblichkeit aus, da beinahe die Hälfte aller Synästheten berichtet, einen weiteren Fall in ihrer engeren Familie zu kennen. Meistens beschränkt sich Synästhesie aber nicht auf nur eine Form, sondern tritt in einem „Paket“ auf.
Billy Joels Musik-Farben-Synästhesie ist eine der häufigsten Variationen (18 Prozent). Andere Menschen hören Gerüche (0,4 Prozent) oder sehen Geschmäcker (5,8 Prozent). Für eine humoristische, aber treffende Darstellung letzterer Ausprägung empfiehlt sich der Animationsfilm „Ratatouille“, gezeichnet von Michel Gagné, der selbst Synästhet ist. 

Was das Dunkelbraun von Arnold Schwarzen­egger über mich selbst aussagt, will ich gar nicht erst analysieren.

Synästhesie vermag auch verschiedene „mystische“ Phänomene zu erklären: Bei der Mirror-Touch Synästhesie fühlen Betroffene dieselben Berührungen wie jene Menschen, die sie beobachten. Andere wiederum sehen die Persönlichkeit ihres Gegenübers in Form eines Schimmerns um deren Köpfe herum; im Volksmund nennt sich das Aura. Im historischen Rückblick wäre es also interessant zu wissen, wie viele „Hexen“ verbrannt wurden, nur, weil sie Synästhetinnen waren. Sämtliche Sinnesverknüpfungen sind denkmöglich; entsprechend skurril ist auch die Liste synästhetischer Variationen. Falls Sie Zeit Ihres Lebens befürchtet haben, an einer psychischen Krankheit zu leiden, weil Ihr Orgasmus nach Erdbeeren schmeckt oder 12.00 Uhr mittags ein Kreis rechts unten in Ihrem Kopf ist, lohnt es sich vielleicht, einen Blick auf diese Liste zu werfen; vielleicht findet sich Ihr „Zustand“ ja darunter. Falls ja: Gratulation, Sie sind nicht verrückt! Sie gehören nur zu den vier Prozent der Menschen mit distinktiver Gehirn-Software. Das macht 250 Euro, bitte.
Jeder Mensch hat eigene Muster, nach denen Emotionen und Erfahrungen empfunden und eingeordnet werden; nicht umsonst ist das Gefühl, nicht verstanden zu werden, eine uns allen bekannte Quelle von Frustration. Aber um die Besonderheit synästhetischen Wahrnehmens besser zu erläutern, erlauben Sie mir als Synästhet aus eigener Erfahrung zu berichten: 
Die meisten Details meines täglichen Lebens – von Zahlen und Buchstaben bis hin zu Gefühlszuständen – sind mit einer bestimmten Farbe verkoppelt. Im Normalfall greift ein einfaches „Rot“ oder „Grau“ aber viel zu kurz: Die Zahl „7“ ist weinrot und die Freude, wenn zwei Objekte perfekt ineinander passen, fühlt sich hell-silbrig an. Die Zahl „4“, der Buchstabe „i“ sowie Ironie aller Art erscheinen dafür in simplem Gelb. Diese Kategorisierungen können die Merk- und Kombinationsfähigkeit stärken. Umgekehrt kann es aber auch zu Unbehagen führen, wenn andere Personen Mustern folgen, die den eigenen widersprechen. Des einen Mannes Graphem-Farb-Synästhesie kann auch nicht einfach auf andere umgelegt werden; welche Dinge welche Farben haben, variiert von Person zu Person. 
Dazu (m)ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, sie liegen am Ende des Tages in ihrem Bett und reflektieren über Ihr Leben. Sie denken an all die Menschen, die Sie getroffen, Orte, die Sie besucht, Themen, mit denen Sie sich beschäftigt haben. Ähnlich einer Galerie der modernen Kunst, in der Sie herumschlendern und sich zuweilen wundern, was das jetzt genau bedeuten soll, stellt sich jeder dieser Gedanken in Form einer Leinwand dar, die bekleckert ist mit Punkten verschiedenster Farben, wobei jede dieser Farben eine mit dem Gedanken verbundene Assoziation repräsentiert. 
Eine häufig gestellte Frage lautet: Welche Farbe hab ich für dich? Nun, das ist nicht leicht zu beantworten: Bei Frauen hat diese Leinwand grundsätzlich einen hellen Hintergrund, im Gegensatz zu einem dunkleren Farbton bei Männern. Als Mensch, der auch nicht vor soziologisch induzierten Stereotypen gefeilt ist, hängt dieser Kontrast davon ab, wie sehr die jeweilige Person traditionellen Geschlechterrollen entspricht. Was das Dunkelbraun von Arnold Schwarzenegger über mich selbst, aber auch die Gesellschaft insgesamt aussagt, will ich gar nicht erst analysieren. 
Jede weitere Information verpasst der Leinwand einen neuen Klecks. Alter (abhängig von den Farben der letzten zwei Zahlen des Geburtsjahres), Duft (bevorzugt Lila oder Karamell), Aussehen (je attraktiver desto goldiger), Witz (womit wir wieder bei der Ironie und somit bei Gelb sind) und vieles mehr schaffen schlussendlich ein sich immer wandelndes „Gemälde“. Also: Welche Farbe hab ich für dich? Ähm, Jackson Pollock.

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