
Endspiel? Immunitätszertifikate und andere „Grüne Pässe“
Grün gilt als die Farbe der Hoffnung. Israel nutzt die Farbe für seine kürzlich implementierten „Grünen Pässe“, die Corona-Geimpfte und Genesene zertifizieren und ihnen damit den Weg zurück in die Normalität ebnen. Als Reaktion werden in Österreich und der EU ähnliche Pässe andiskutiert.
Corona-Immunität als entscheidende Ressource
Seit Beginn der Pandemie habe ich mich mit einem Team von Forschern für die Zertifizierung der Immunität von Genesenen eingesetzt. In Deutschland, Österreich und der Schweiz waren wir vermutlich die ersten – vielleicht sogar weltweit. Regelmäßig haben wir in Diskussions- und Medienbeiträgen (unter anderem im April 2020 in Thema Vorarlberg) auf die wachsende Bedeutung von Corona-Immunität als entscheidende Ressource in der Pandemie hingewiesen. Die Zertifizierung der Immunität ist ein Instrument zur schnellen und kostenschonenden Bewältigung der Krise. Immunitätszertifikate wären dynamisch an den Stand der Wissenschaft angepasst worden und hätten auch impf-induzierte Immunität erfasst.
Wir konnten bis zur Einführung der „Grünen Pässe“ in Israel vier Gruppen von Skeptikern von Immunitätszertifikaten beobachten:
- Immunitätsleugner wollten nicht wahrhaben, dass Corona-Genesene eine gewisse Immunität entwickeln. Beweise für einen Schutz durch Genesung gab es im März 2020 natürlich noch nicht. Unsere damalige Annahme einer gewissen Tragfähigkeit und Haltbarkeit der Immunität war aber minimalistisch. Praktisch kein Immunologe hätte ihr widersprochen. Spätestens seit Sommerbeginn wuchs die Evidenz für Immunreaktionen schnell, viele Leugner wollten sie nicht sehen.
- Ängstliche wollten absolute Sicherheit. Doch wer für Immunität, gleich ob genesungs- oder impfbedingt, absolute Sicherheit verlangt, verlangt Unmögliches. Sicherheitsanforderungen müssen situativ angemessen sein und Güterabwägungen sowie die psychischen, sozialen und wirtschaftlichen Kosten von Lockdowns mitberücksichtigen. Selbst wer aus Unsicherheit keine expliziten Rechte an Immunitätszertifikate binden wollte, hätte keine Angst vor dem Suchen, Finden und Dokumentieren von Genesenen haben dürfen.
- Abwartende wollten warten – vermutlich auf Impfungen. Diese wurden glücklicherweise deutlich schneller entwickelt als von fast allen erwartet. Erwartbar war, dass ein möglicher Impfstoff zunächst knapp sein würde. Deshalb betonten wir immer, man müsse Genesene finden. Denn selbst bei beschränkter Immunität lag die Idee nahe, Genesene nachrangig oder nur einmal zu impfen: Beim Impfen hätten die zertifizierten Genesenen zugunsten anderer etwas abwarten müssen.
- Gleichmacher wollten lieber eine gleich schlechte Situation für alle als eine Rückkehr in die Normalität für Zertifikatinhaber. Ein sinnvolles Verständnis des Gleichheitsgebotes inkludiert, gewisse Rechte an körperliche Eigenschaften zu knüpfen – es dürften nur keine irrelevanten Eigenschaften sein. Weitgehende Immunität in einer Pandemie ist keine irrelevante Eigenschaft. Auch könnten Immunitätszertifikate für Genesene als eine Art Entschädigung für die Leiden einer teilweise schweren Infektionserkrankung verstanden werden. Die Gleichmacher akzeptierten nur eine schlechte Situation für viele und eine noch schlechtere Situation für einige.
Europa und Immunitätszertifikate
Das erklärte Ziel der europäischen Regierungen war bislang, die Risikogruppen vor Infektion und das Gesundheitswesen vor Überlastung zu schützen. Das gelang ihnen je nach Land, Stand- und Zeitpunkt zwischen gut und katastrophal. Die Impfung bot die Chance einer schnellen Erlösung. Mit frühzeitigen, großzügigen Bestellungen von Impfstoffen und der nachrangigen Impfung bereits Genesener hätte das Ziel – Schutz der Risikogruppen und des Gesundheitswesens – bis Anfang März weitgehend erreicht sein können. Bekanntlich haben nur wenige Länder diese Chance auf eine Normalisierung realisiert.
Könnten es Immunitätszertifikate im Stil von „Grünen Pässen“ nun richten? Bei kompetenter Regierungsarbeit, wie teilweise auf regionaler Ebene, bräuchten sie eine Vorlaufzeit von wohl einem Monat. Da die Ankündigungskompetenz vieler nationaler Regierungen und insbesondere der EU größer als die Lösungskompetenz zu sein scheint, dürfte der Vorlauf deutlich länger dauern. Chancen bestünden allemal: Immunitätsleugner und Ängstliche sind mit den Impfungen verstummt oder zu Impfskeptikern mutiert. Abwartende sind ungeduldig geworden und wollen schnelleres Impfen. Manche fordern nun auch, die Genesenen nachrangig zu impfen. Hierfür müsste man es aber erstmal nachholen, die Genesenen zu finden.
Die Gleichmacher wollen weiterhin alles gleichmachen. Sie können sich Immunitätszertifikate nur unter der Bedingung vorstellen, wenn vielleicht im Herbst 2021 eine Impfmöglichkeit für alle bestünde. Doch spätestens dann verlieren Immunitätszertifikate – bis auf wenige Ausnahmen bei internationalen Reisen oder im medizinischen Bereich – ihre Notwendigkeit: Sie waren von uns als Weg zurück in die Normalität konzipiert. Sobald genug Impfstoff für alle zur Verfügung steht, ist die gesundheitliche Krise weitgehend gelöst. Immunitätszertifikate dienen dann nur mehr der individuellen Gesundheitsdokumentation als Art Impfbuch, wie es jedes Baby bekommt. Wer Impfzertifikate erst einsetzt, wenn alle geimpft werden können, hat nicht nur die wertvollste Ressource gegen Corona niemals sinnvoll genutzt, damit die Impfungen verzögert und Todesfälle hingenommen. Schlimmer noch: Die Gleichmacher machen ein Krisenlösungsinstrument zum bloßen Kontrollinstrument.
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