Wolfgang Greber

* 1970 in Bregenz, Jurist, bei der „Presse“ im Ressort Außenpolitik, Sub-Ressort Weltjournal. Er schreibt auch zu den Themen Technolo­gie, Militärwesen, Raumfahrt und Geschichte.

Wie ich erstmals meinen Baumkumpel am anderen Seeufer traf

Oktober 2024

Als Kind war mir von unserem Hochhaus in der Bregenzer Weiherstraße aus ein einsamer Baum auf einem Hügel nahe Lindau aufgefallen. Erst 2023 hab ich ihn gefunden, an einem zauberischen Ort. Und erlebte eine Überraschung.

Ich sah als Kind viel aus dem Fenster. Vermutlich tut man das automatisch, wenn man in Bregenz in einem der Hochhäuser in der Weiherstraße aufwächst, im siebten Stock. Der Ausblick aus unserer Wohnung über den je nach Wetter blauen, grünen oder grauen See und den Pfänderstock, Lindau, das deutsche Ufer und Hügelland war gewaltig. Ich genoss vor allem die trüben, wolkigen Stunden, wenn Regen ans Fenster nadelte, der graue See träge oder stürmisch dalag und das Regengeräusch von der Straße heraufschallte, zerschnitten vom Zischen rollender Autoreifen. 
Immer wieder sah ich eine Seltsamkeit: Weit hinter dem See, irgendwo zwischen der Lindauer Insel und Lochau, war im Relief aus Wäldern, Lichtungen und Häusern ein markanter grüner Hügel. Und auf seiner Spitze ein großer, kugeliger Baum. Ganz einsam, in großem Umkreis war offenbar nur Wiese. Der einsame Baum dort drüben und ich wurden irgendwie Kumpel.
Leider fuhren wir nie dorthin, obwohl wir oft in Lindau waren. Und als wir 1983, ich war 13, Bregenz verließen, hatte ich meinen Kumpel noch immer nicht besucht. Das blieb so, ich zog nach Innsbruck, Wien, Niederösterreich, und vergaß ihn. Anfang der 2010er fiel er mir wieder auf, als ich vom Molo aus über den See sah. Er stand immer noch allein auf dem Hügel. Ich musste ihn finden.
Die Sache sollte unerwartet tricky und frustrierend werden. Denn der Baum hatte die Angewohnheit, zu verschwinden, wenn man sich ihm über die Pipeline näherte. Von vielen Punkten am Nordrand Vorarlbergs aus sah man ihn gar nicht, ja nicht einmal vom Pfänder aus. Mehrfach kurvte ich über all die Jahre mit dem Auto im Lindauer Hinterland herum, erfolglos.
In irgendeinem Sommer rumpelte ich mit dem Rad von Eichenberg/Lutzenreute den Waldweg über die Ruine Ruggburg runter nach Hörbranz und kam in den höhergelegenen Ortsteil Backenreute, als der Baum plötzlich am Horizont stand. Er musste wenige Kilometer entfernt sein, aber fuhrst du weiter, versank er hinter Wäldern. Ich radelte über die Grenze, suchte dort stundenlang. Umsonst. Auch der Versuch, die markante Stelle auf Google Maps zu finden, scheiterte. Wollte der mich fuchsen?
Im Oktober 2023 ein neuer Versuch, mit einem in Bregenz gemieteten E-Bike. Von der Allgäustraße in Hörbranz aus erschien der Baum links über dem Wald, ganz kurz, auf einer Linie mit der Kirche. Ich fuhr des besseren Ausblicks wegen hoch nach Backenreute, der Baum tauchte auf, ich schätzte die Position. Runter nach Hörbranz. Baum weg. Ich kreuzte die Leiblach im Ortsteil Diezlings über eine Fußgängerbrücke, kurz davor ist ein hübsches Gasthaus/Hotel, an der Stelle, wo vom 17. Jahrhundert bis 1980 das Heilbad Bad Diezlings war. Der Luxemburger Norbert Jacques (1880-1954) schrieb dort 1920 seinen ersten, von Fritz Lang verfilmten Roman über den Superschurken Dr. Mabuse. 1927 versetzte der Heilbad-Wirt Johann Füssinger das Wasser mit Fruchtextrakt, Zucker, Kohlensäure. Unter dem Namen „Diezano“ schuf er die erste autochthone Limonade Vorarlbergs. Fohrenburger erwarb Marke und Betrieb 1938 und verlegte die Produktion Jahrzehnte später an andere Standorte.
Jener meines Baums blieb von der Leiblach aus angesichts einer steilen Anhöhe unsichtbar. Und blieb es auch, nachdem ich sie überwunden und eine schwer überschaubare Ebene mit Wäldern, Hügeln und kleinen Orten erreicht hatte. Ich fuhr in Sackgassen. Das Gefühl riet, einen möglichst hohen Punkt anzusteuern, den ich alsbald neben der stark befahrenen Bundesstraße 12 nördlich der Gemeinde Weißensberg (etwa 2800 Einwohner) fand. Es war ein mächtiger Grashügel, schon dachte ich, das könnt’s sein, aber oben war ringsum nix vom Baum zu sehen.
Ich wollte fast schon aufgeben und fuhr längs der B12 zurück Richtung See, da zeichnete sich links, südlich von Weißensberg, noch eine Anhöhe ab. Ich drehte um, fuhr durchs Dorf, sah Trachtenträger und fand den „Kapellenweg“. 
Der führt den Hügel hoch, wird zum Feldweg. Minuten später, zwei Stunden nach dem Aufbruch in Bregenz oder 40 Jahre nach meinem unfreiwilligen Wegzug von dort, stehe ich vor meinem einsamen Baum. Und sehe, dass es zwei Bäume sind. Ein großer und ein kleiner, dazwischen eine weiße Kapelle. Es war also ein Trugbild gewesen: Von der Ferne und je nach Standort verschmelzen diese Laubbäume miteinander.
Ringsum gekrümmte Wiese, die nächsten Baumgruppen über 100 Meter entfernt, der Grashügel entspricht (ich hab’s grob gemessen) mindestens 14 Standard-Fußballfeldern. Die Herbstsonne wärmt die Glückshormone. Die Aussicht ist irre, auf die Berge beidseits des Rheintals bis zum Rand Graubündens, auf Felder, Wälder, Dörfer. Bodensee und Rheintal blieben aber hinter einer Dunstdecke großteils verborgen.
Der Hügel heißt Weißensberger (auch: Oberhofer) Halde, 540 Meter Seehöhe. Die Marienkapelle mit dem spitzen Dach ließ Bayerns Prinzregent Luitpold 1870 bauen. 1982 hat man sie saniert. Luitpold amtierte von 1886 bis zu seinem Tod 1912 im Alter von 91 Jahren, er vertrat seinen psychisch kranken Neffen, König Otto. Unter dem volksnahen Regenten erlebte Bayern eine kulturelle und wirtschaftliche Blüte, verlor als autonomes Land innerhalb des Reichs aber an Macht. Luitpold baute die Kapelle für seine 1864 verstorbene Frau Auguste, Erzherzogin von Österreich und Prinzessin der Toskana, die von Lindau aus oft auf den Hügel gewandert war. Er hatte ihr nämlich 1848 in Lindau-Reutin ein Sommerhaus eingerichtet, die „Villa Amsee“, lange Treffpunkt des Hochadels. Später verfiel sie, wurde 1982 abgerissen.
Ich saß im Gras auf dem Hügel. In der Nähe gibt’s eine Imkerei (Jack Daniel Ballers Honey Farm) und Schnapsbrenner (Fischer in Bösenreutin, Bayer und Bayer in Egghalden). Wer als Vorarlberger, zumindest als Rheintaler beziehungsweise Seeanrainer, sein Land von einer etwas andren Seite sehen möchte, dem sei dieser Ort empfohlen.
8,4 Kilometer Luftlinie trennen meine alten Baumkumpels von den Fenstern meiner Ex-Wohnung in Bregenz, Weiherstraße 3. Bei der Rückfahrt gab es noch eine Überraschung: Am Fuß des Hügels im Süden und Osten verläuft durch die Felder ebenfalls – eine Weiherstraße.

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