
„Ein Richter, der über Mord urteilt, muss auch mit dem Mörder sprechen“
Publizist Jürgen Todenhöfer (74) war schon in vielen Krisenregionen dieser Welt. Aber dieses Mal wagte er äußerst Riskantes: Der 74-Jährige reiste in den Islamischen Staat – um sich vor Ort ein Bild von den Terroristen zu machen. Was er sah, schockierte ihn. Mit seinem Buch „Inside IS“ führte der ehemalige Richter die Bestsellerlisten in Deutschland und Österreich an. Im Interview mit „Thema Vorarlberg“ lässt Todenhöfer die Reise, diese zehn Tage im Islamischen Staat nochmals Revue passieren.
Leben Sie gerne, Herr Todenhöfer?
Ja, sehr!
Wie sind Sie dann auf die Idee gekommen, zehn Tage mit IS-Gotteskriegern mitten im Islamischen Staat zu leben? Journalisten, die das zuvor gewagt hatten, wurden geköpft.
Ich habe seit meiner Kindheit einen unwiderstehlichen Drang, hinter die Kulissen zu schauen und die Wahrheit herauszubekommen. Als ich noch Richter war, habe ich das auch gemerkt: Sie müssen, wenn Sie einen Prozess entscheiden, die Wahrheit finden. Und die einzige Chance, die Wahrheit zu finden, ist, mit allen Seiten zu sprechen. Ein Richter, der über Mord urteilt, muss ja auch mit dem Mörder sprechen. Und ich wollte auch wissen, wer der IS ist und wie das möglich ist, dass eine Terrororganisation plötzlich einen Staat beherrscht, der so groß ist wie Großbritannien.
Und von den schockierenden Bildern von Enthauptungen ließen Sie sich nicht stören?
Ich kannte einen der enthaupteten Journalisten persönlich, James Foley. Der war in der Zeit der Revolution in Libyen mehrere Tage im selben Hotel wie ich, in Bengasi. Ein ruhiger, zurückhaltender Mensch. Aber ich habe mir die Bilder bewusst nicht angeschaut, um von der IS-Propaganda, dieser Zelebrierung grauenhafter Morde, nicht beeinflusst zu werden.
Sie haben Ihre Erlebnisse niedergeschrieben, im Bestseller „Inside IS – 10 Tage im >Islamischen Staat<“. Dort schildern Sie auch, wie Sie Kontakt mit dem IS aufgenommen haben …
Die meisten ausländischen Kämpfer, egal ob sie nun beim IS oder bei anderen Terrorgruppen sind, tummeln sich im Internet, schreiben Freunden, erzählen, was sie tun. Es ist also gar nicht schwer, Namen, Bilder und Meinungen dieser Leute zu finden und die auch anzuschreiben. Also haben mein Sohn und ich über 80 deutsche Dschihad-Kämpfer aus unterschiedlichen Terrorgruppen angeschrieben und gefragt, ob sie bereit wären, auf unsere Fragen zu antworten. Und nach monatelangem Hin und Her hat sich das schließlich auf eine Person vom IS konzentriert.
Auf einen deutschen Konvertiten, einen früheren protestantischen Christen mit urdeutscher Abstammung und dem Vornamen Christian …
Er hat den Namen Abu Qatadah angenommen, hat ein neues Leben angefangen, ein falsches. Er hat bereitwillig und sehr präzise Auskunft gegeben, schonungslos. Er hat mir genau geschrieben, wen sie alles umbringen wollen und warum und wie. Mit dem habe ich monatelang geskypt, oft stundenlang an einem Tag, um mehr über deren Ideologie und Motivation zu erfahren. Und ich habe ihm dann gesagt, dass ich da hinfahren will, dafür aber eine veröffentlichte Garantie des Kalifats brauche, dass mir nichts passiert. Als das gewährt wurde, waren die Voraussetzungen für die Reise geschaffen.
Mit dieser Sicherheitsgarantie sind sie schließlich mit Ihrem Sohn Frederic und einem weiteren Freund in den Islamischen Staat eingereist, über die Türkei, über Gaziantep nach Syrien. Mit viel Angst?
Nein. Wenn man so eine Reise macht, kann man sich Angst und ähnliche Gefühle nicht leisten. Das muss man sich vorher überlegen.
Dennoch: Sie hatten sich, schreiben Sie, ein tödliches Medikament eingesteckt, für den Fall, in Gefangenschaft zu geraten und gefoltert zu werden.
Das machen viele Spezialkämpfer, die hinter feindlichen Linien agieren, beispielsweise am Hindukusch. Die haben oft etwas dabei, mit dem sie verhindern können, dass sie über Tage und Wochen gefoltert, gedemütigt und schließlich öffentlich hingerichtet werden. Ich bin davon ausgegangen, dass ich das Mittel nie brauche. Aber man schließt ja auch eine ganze Reihe von Versicherungen ab, für Fälle, von denen man annimmt, dass sie nie eintreten. Man rüstet sich da für den unwahrscheinlichen Fall.
Nach einem abenteuerlichen Grenzübertritt wurden Sie von IS-Kämpfern in Empfang genommen und in einem Auto ins Landesinnere gefahren. Der vermummte Fahrer in Ihrem Auto begegnete Ihnen mit purem Hass …
Der Fahrer war der Chef in unserer Gruppe. Er mochte mich nicht. Weil ich ihm von Anfang an auch bei Dingen, die mir nicht gefallen haben, widersprochen habe. Ich habe ihm gleich am ersten Tag sehr laut und sehr stark zu verstehen gegeben, dass er so mit mir nicht sprechen kann. Das war wichtig, hat aber auch dazu geführt, dass wir ein kühles Verhältnis hatten.
Nach Ihrer Rückkehr haben Sie den Fahrer identifiziert – es war der als „Jihadi John“ bekannte Henker des IS, der Mörder von James Foley.
Ja, das war unser Fahrer. Als wir dort waren, war es zunächst aber nur eine dunkle Vermutung. Er war ja mit einem großen Tuch völlig vermummt. Aber die Stimme und die Melodie der Stimme, der britische Akzent, mit dem er sprach, und die Art, wie er blickte. Zudem gab es ständig Zwischenfälle, die unseren Verdacht nährten. Es wurde im Laufe der Reise klar, dass er direkten Zugang zu IS-Geiseln hatte. Und als ich ihn einmal in Mossul, in einem Nebenraum eines Restaurants, per Zufall unmaskiert gesehen habe, gab es schwerste Auseinandersetzungen mit der ganzen Gruppe. Aber, wie gesagt, es war zunächst nur eine Vermutung. Erst als wir wieder in Deutschland waren, konnten wir im Internet präzise recherchieren und Informationen vergleichen. Einzelheiten fügten sich wie in einem Puzzle zu einem Bild: Unser Fahrer war „Jihadi John“!
Haben Sie der Sicherheitsgarantie denn getraut? Denn vorher hatte man Ihnen auch gesagt, dass die Garantie bei Gotteslästerung erlösche – nur dass niemand definiert hatte, wo eine Gotteslästerung beginnt.
Da hatte mein Sohn ständig große Sorgen, weil ich mehrfach gesagt habe: Der Gott, den ich aus dem Koran kenne, ist viel mächtiger, viel erhabener, stärker und barmherziger als der kleinliche Gott, den Ihr mir hier ständig schildert. Ich habe Ihnen immer wieder gesagt, dass das, was sie tun, ein Verstoß gegen den Koran ist. Ich glaube, dass ich mit diesen Äußerungen die Leute sehr zornig gemacht habe. Aber ich habe immer versucht, so zu formulieren, dass ich die Grenze zur Gotteslästerung aus deren Sicht nicht überschreite.
Ihre Reise führte sie nach Mossul, eine Stadt mit zwei Millionen Einwohnern, die vom IS regiert wird. Sie schreiben, dass Ihnen bei einem Richter dort zu Ihrer Fassungslosigkeit „angeboten“ wurde, an einer Exekution teilzunehmen …
Ich ging zu Gericht, um mir die Lage vor Ort anzuschauen. Ich kam mit einem Richter ins Gespräch. Und der sagte mir, es sei in absehbarer Zeit keine Handamputation oder Exekution geplant. Abu Qatadah meinte, er hingegen könne das sofort arrangieren, die Gefängnisse seien voll. Ich solle ihm nur sagen, ob ich nun eine Handamputation sehen wolle oder eine Enthauptung. Und ob ich lieber einen Kurden oder einen Schiiten hätte.
Wie reagiert man da?
Fassungslos. Schockiert. Dieses Angebot zeigte die totale Brutalität dieser Leute. Diese völlige Hemmungslosigkeit. Die Art und Weise, so über Menschenleben zu richten. Die Perversion, mit der dieses Grauen zelebriert wird. Das ist Gotteslästerung, wenn man behauptet, man tue das im Namen Gottes! In diesen zehn Tagen war fast alles beklemmend. Wie wenn man in eine Parallelwelt eintritt oder nach einer Operation aus einer Narkose aufwacht. Wenn man nicht mehr weiß, was real ist und was irreal. Diese ständigen Hinweise auf die Enthauptungen! Oder Kämpfer aus Mossul, die mir gesagt haben, sie würden eines Tages nach Deutschland kommen, uns suchen, finden und töten!
In Ihrem Buch nennen Sie die Kriege der USA im Irak, in Afghanistan und in Libyen „regelrechte Terrorzuchtprogramme“. Haben in Ihren Augen die USA also erst die Probleme geschaffen, die es heute gibt?
Ja. Jean-Paul Sartre hat einmal gesagt, dass unsere Kriege ein Bumerang seien. Und sie kommen als Terrorismus wieder zurück. Jedes durch westliche Bomben ermordete Kind bringt mindestens zehn neue Terroristen hervor. Ich war in Mossul auch in einem Krankenhaus, sah sterbende und schwerverletzte Kinder. Der Politologe Samuel P. Huntington hat geschrieben: Der Westen hat die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Werte erobert, sondern durch seine Überlegenheit beim Anwenden von Gewalt. Westler vergessen diese Tatsache oft, Nichtwestler nie. Zu Beginn unserer Anti-Terror-Kriege gab es wenige hundert internationale Terroristen. 14 Jahre lang haben wir jetzt versucht, dieses Problem mit Bomben zu lösen. Mittlerweile gibt es fast 100.000 internationale Terroristen und der halbe Nahe Osten brennt. Wer Chaos schafft, sollte sich anschließend nicht über die Chaoten wundern.
Mit welchen Eindrücken sind Sie wieder nach Deutschland zurückgekommen?
Ich bin aus dem Islamischen Staat völlig deprimiert zurückgekommen, weil ich gesehen habe, wie leicht man junge Menschen manipulieren kann. Da wird ein Hebel im Gehirn umgelegt, und dann werden aus jungen, durchaus sympathischen Menschen erbarmungslose Killer. Das hat mich deprimiert. Aber mich hatte auch deprimiert, was die US-Amerikaner im Irak, in Afghanistan und in Libyen und mit ihren Drohnenschlägen im Jemen und in Somalia angerichtet haben. Auch das habe ich genau recherchiert. Über 90 Prozent der Toten sind immer Zivilisten. Man könnte an der ganzen Welt verzweifeln.
Wie soll die Welt dem IS begegnen?
Wir müssten den „gemäßigten“ Sunniten im Irak helfen, sich in das politische System im Irak zu integrieren, aus dem sie 2003 ausgeschlossen wurden. Dann werden sie dem IS die rote Karte zeigen. Wir müssen aber noch ganz andere Dinge tun: Der IS will alle demokratischen Muslime im Westen töten, weil er die Demokratie als die schlimmste Anmaßung der Menschen ansieht. Weil die Demokratie Gesetze macht und diese angeblich über die Gesetze Gottes stellt. Man muss also die Muslime in unseren Ländern, die mit dem IS denselben Feind haben, zu unseren Partnern machen, wir müssen die muslimischen Länder genauso gut behandeln, wie wir Israel behandeln, wir müssten die Ideologie des IS als antiislamisch entlarven. Und ich habe noch einen ganz konkreten Vorschlag.
Der da lautet?
Die Wege, über die junge Europäer in den Islamischen Staat gehen, sind alle bekannt. Es gibt nur eine Handvoll Übergangsstellen. Eine internationale Truppe von Anti-Terror-Spezialisten könnte, wenn sie sich an den Flughäfen von Gaziantep und Adana, an der türkischen Grenze, am Übergang zum Islamischen Staat aufstellen würde, diese IS-Rekruten abfangen. An diesen Übergängen steht keine Polizei. Da stehen nur Schlepper. Und die begrüßen die neuen Kämpfer freundlich und bringen sie auf Schmuggelpfaden in den islamischen Staat. Das hat zur Folge, dass die ihre Verluste, die sie in Kämpfen erleiden, immer wieder leicht ausgleichen können. Jeden Tag kommen auf diesem Weg 200 neue Kämpfer aus der ganzen Welt in den Islamischen Staat. Kein Mensch hindert die daran, über die Grenze zu gehen. Uns hat auch keiner gehindert.
Die Türkei scheint sich nun doch zu einem härteren Vorgehen gegen den IS entschieden zu haben. Wird das Ihrer Ansicht nach etwas nützen?
Wenn die Türkei wirklich und konsequent gegen den IS vorgeht, dann ja. Der Großteil der ausländischen Kämpfer kommt über einen Grenzabschnitt, der nicht länger als 80 Kilometer ist. Außerdem hat der IS in der Türkei ein Netzwerk von Sympathisanten und Schmugglern aufgebaut. Selbst nach den Massenverhaftungen vor ein paar Wochen sind noch Hunderte von ihnen aktiv. Dieses Netzwerk muss zerschlagen werden, die türkischen Behörden müssen die Reiserouten der Dschihadisten schließen, dem IS seinen Nährboden entziehen. Durch Bombardements wird auch die Türkei den IS nicht schlagen können. Laut aktuellster Einschätzungen der US-Geheimdienste ist der IS nach einem Jahr Bombardierung nicht wirklich schwächer geworden.
Vielen Dank für das Gespräch!
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