Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Auch das Nichtstun ist vielfach mit Kosten verbunden“

Juli 2015

Quo vadis, Österreich? WIFO-Forscherin Margit Schratzenstaller-Altzinger (47) mahnt im Gespräch mit „Thema Vorarlberg“ dringend „fundamentale Strukturreformen im öffentlichen Sektor“ ein. Und kritisiert in diesem Zusammenhang die Politik, die „in Wahlzyklen, also kurzfristig“ denke.

Vor zehn Jahren hatte der „Stern“ Österreich zum „besseren Deutschland“ gekürt. Heute zählt Österreich zu den wachstumsschwächsten Volkswirtschaften Europas. Eine bittere Entwicklung …

Der Wachstumsvorsprung hat sich in der Tat jüngst in einen Wachstumsrückstand verwandelt. Österreich hat eine, zumindest für österreichische Verhältnisse, relativ hohe Arbeitslosigkeit. Das Land fällt in den Standort­rankings zurück. Und es gibt große Defizite in Zukunftsbereichen. Es herrscht großer Reformbedarf im Bildungssystem, bei der Kinderbetreuung, bei den Universitäten, auch bei Forschung und Entwicklung – alles Bereiche, die für das längerfristige Wachstums- und Beschäftigungspotenzial wichtig sind. Zwar glaube ich, dass eine Dramatisierung nicht angebracht ist. Aber es gibt durchaus einige Anzeichen, die einen gewissen Rückfall dokumentieren.

Anzeichen, die die Bundesregierung aber offenbar nicht ernst nehmen will.

Dafür gibt es viele Ursachen, auch politökonomischer und institutioneller Art. Im Prinzip haben wir folgendes Dilemma: Österreich hat derzeit nicht den budgetären Spielraum, um gleichzeitig die hohe Abgabenquote senken und in Zukunftsbereiche mehr investieren zu können – zumal ja auch Vorgaben einzuhalten sind, was Defizit und Schuldenabbau betrifft. Also sollte man fundamentale Strukturreformen im öffentlichen Sektor endlich angehen. Es werden seit Jahren Anläufe gemacht, und in diversen Konsolidierungspaketen sind Reformmaßnahmen ja auch ansatzweise vorhanden. Im Prinzip fehlt es in Österreich aber immer noch an wirklich konsequenten Maßnahmen zur Dämpfung der Ausgaben­dynamik. Ein Schlüsselbereich ist für mich übrigens der Föderalismus – eine wirklich grundlegende Reform in diesem Bereich wäre ein sehr zentraler Hebel, um viele andere Reformen im öffentlichen Sektor endlich voranzubringen.

Was missfällt Ihnen denn an dem in Österreich praktizierten Föderalismus?

Es fehlt eine grundlegende Aufgabenkritik! Unabhängig von der Staatsverfassung müsste man zunächst definieren, welche Aufgaben der Staat überhaupt übernehmen soll. Dann ist die Frage zu klären, wie die Aufgaben auf die einzelnen föderalen Ebenen verteilt werden sollen. Es müsste in möglichst vielen Aufgabenbereichen eine ganz klare Aufgaben- und Kompetenzzuordnung vorgenommen werden, um die vielen gemeinsamen Zuständigkeiten abzubauen. Denn diese gemeinsamen Zuständigkeiten sind das große Problem im österreichischen Föderalismus: Sie ziehen einen ganzen Rattenschwanz von Doppelgleisigkeiten, Ineffizienzen und vielfältigsten intransparenten Finanzierungsverflechtungen nach sich, was eine Steuerung erheblich erschwert.

Es mehren sich, vor allem im Westen Österreichs, die Rufe nach einer eigenen Steuerhoheit der Bundesländer bei Massensteuern.

Der Forderung nach einer Stärkung der Abgabenautonomie der Länder kann ich etwas abgewinnen – weil dadurch die Ausgaben- und Finanzierungsverantwortung gestärkt würde. Denn das ist das nächste Pro­blem im österreichischen Föderalismus: Die Länder geben Geld aus, ohne sich für die Finanzierung verantworten zu müssen. Wie eine stärkere Steuerautonomie allerdings ausgestaltet würde, ist eine andere Frage. Es ist eine politische Entscheidung, welches föderale Leitbild man verfolgen soll – der österreichische Föderalismus ist ja sehr stark von einem solidarischen Gedanken, einem Ausgleichsgedanken geprägt,  während der Schweizer Föderalismus, quasi als Gegenmodell, sehr wettbewerbsorientiert ist.

Sie waren Mitglied in einem von Finanz­minister Schelling eingesetzten Experten­rat, der sich mit Österreichs Zukunft beschäftigen sollte und dem dabei freie Hand gelassen wurde. Resultat: Es wurde so manch unliebsame Forderung formuliert. Doch wird es eben tiefe Einschnitte brauchen, oder?

Ich glaube, es ist zu kurzsichtig, nur auf mögliche unerwünschte Konsequenzen und Kosten von Reformen zu schauen. Tatsache ist, dass auch das Nichtstun vielfach mit Kosten verbunden ist. Insofern mögen Reformmaßnahmen unliebsam sein, zumal wenn sie die Bereitschaft erfordern, sich auf Neues einzulassen. Aber in vielen Bereichen verursacht auch die Unterlassung oder weitere Verzögerung von Reformen hohe Kosten, die bei Entscheidungen für oder gegen Reformen stärker berücksichtigt werden müssen, als das derzeit oft der Fall ist. Im Übrigen werden oft auch die Nutzen von effizienzsteigernden Reformen im öffentlichen Sektor zu wenig berücksichtigt: Nur wenn Ineffizienzen beseitigt, wenn alte Zöpfe abgeschnitten werden, können neue Aufgaben und Ausgaben – für Zukunftsinvestitionen, aber auch im Umweltbereich oder der Altenpflege – bewältigt werden.

Drei Viertel der Staatsausgaben Österreichs seien derzeit rückwärtsgewandt und würden nicht für die Modernisierung des Staates eingesetzt, lautet einer der Kritikpunkte. Klingt dramatisch …

In der Tat müssen mehr Mittel in zukunftsorientierten Bereichen eingesetzt werden. Diese Umlenkung erfordert genau die bereits genannten strukturellen Reformen im öffentlichen Sektor. Darüber hinaus muss auch das Abgabensystem stärker für strategische Ziele genutzt werden. Bei einer Abgabenquote von über vierzig Prozent der Wirtschaftsleistung muss ein größerer Anteil der Steuern aus Lenkungssteuern bestehen – Steuern auf Energie- und Umweltverbrauch oder Alkohol- und Tabakkonsum. Sonst müssen im Nachhinein Umwelt- oder Gesundheitsschäden mit zusätzlichen öffentlichen Ausgaben kuriert werden, die wiederum weitere Steuererhöhungen erfordern.

Eine wachstumsfreundliche Budgetkonsolidierung müsse in erster Linie durch einen Abbau der Neuverschuldung erfolgen. Mit dem Rasenmäher sollte dabei aber tunlichst nicht gekürzt werden. Wie ist das gemeint?

Das ist schlicht und einfach so gemeint, dass Einsparungen nicht – wie es in den letzten Jahren überwiegend der Fall war – primär dort erfolgen sollen, wo es politisch leicht umsetzbar ist, sondern dort, wo es möglichst wachstumsverträglich und effizienzfördernd ist. Wenn Ausgaben nach der Rasenmähermethode gesenkt werden, sind auch zentrale Zukunftsbereiche betroffen, wie derzeit etwa die Bildungsausgaben, die entgegen dem tatsächlichen Bedarf tendenziell zurückgehen. Vielmehr braucht eine ausgabenseitige Konsolidierungspolitik klare Prioritäten, die auf die Beseitigung von Ineffizienzen bei der Mittelverwendung abzielen.

Sie nennen das österreichische Abgaben­system stark reformbedürftig.

Die Abgabenbelastung ist in Österreich im internationalen Vergleich relativ hoch. Österreich gehört zu den sieben EU-Ländern mit den höchsten Abgabenquoten. Nun gibt es zwar keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen ökonomischer Performance und Abgabenbelastung. Denn einerseits ist entscheidend, wie der Staat die Abgabeneinnahmen verwendet – hier haben wir vielfältige Effizienzdefizite. Andererseits kommt es auf die Abgabenstruktur an: In Österreich basiert ein sehr großer Teil des Abgabenaufkommens auf dem Faktor Arbeit – sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber sind die Abgaben auf die Arbeit sehr hoch. Das ist wachstums- und beschäftigungspolitisch nicht sehr vernünftig. Gleichzeitig werden Lenkungssteuern relativ wenig genutzt, auch im internationalen Vergleich; ebenso Grund- und Erbschaftsteuer. Dabei wären diese Steuern relativ gut wachstums- und beschäftigungsverträglich. Zudem gibt es viele Ausnahmen im Einkommen- und Umsatzsteuersystem, deren Einschränkung das System einfacher und transparenter machen würde, während gleichzeitig die zusätzlichen Einnahmen zur Senkung der hohen nominellen Steuersätze genutzt werden könnten. Das alles wären Säulen einer strukturverbessernden Gegenfinanzierung für weitere Senkungen der auch nach der soeben beschlossenen Steuerreform immer noch hohen Abgaben auf die Arbeit.

Was müsste geschehen?

Zum einen sollte man perspektivisch danach trachten, die Abgabenbelastung insgesamt zu senken, und zum zweiten, die Abgabenstruktur weiter zu verbessern. Ersteres bedingt, dass man sich durch Strukturreformen im öffentlichen Sektor die entsprechenden Budget-Spielräume verschafft, Zweiteres kann und sollte relativ rasch umgesetzt werden.

Die Politik soll etwas relativ rasch umsetzen? Da wird der gelernte Österreicher skeptisch …

Die Steuerreform, die jetzt beschlossen worden ist und im Wesentlichen ab 2016 greift, setzt erste richtige und wichtige Schritte. Die Steuerreform insgesamt hat ein Volumen von 1,4 Prozent der Wirtschaftsleistung. Das ist, was den Umfang betrifft, eine große Steuerreform. Sie entlastet die unteren und mittleren Arbeitseinkommen, auch das ist sicher sehr zielführend. Zudem macht die Reform zumindest erste Schritte in Richtung Abschaffung und Einschränkung von Ausnahmen in der Einkommen- und Umsatzsteuer, und sie bezieht doch einen erheblichen Teil der Gegenfinanzierung aus der Bekämpfung von Steuerbetrug und -hinterziehung.

Die Unternehmerschaft beklagt allerdings einen zunehmend wirtschaftsfeindlichen Kurs in unserem Land.

Es braucht Initiativen zur Verbesserung des Investitionsumfelds, ja. Die hohen Dienstgeberbeiträge müssen gesenkt werden. Zudem müsste Österreich verstärkt in die bereits angesprochenen Zukunftsthemen investieren. Beispiel Bildung: Im österreichischen Bildungssystem gibt es eine ziemlich ausgeprägte soziale Selektivität, eine hohe und anhaltende Bildungsvererbung. Ein bedeutender Teil der Talente wird nicht genutzt. Investiert werden muss auch in die Kinderbetreuung – zur frühzeitigen Förderung der Kinder und um die Work-Life-Balance von Eltern zu verbessern. Es ist auch im Inte­resse der Unternehmen, dass die Rahmenbedingungen für eine kontinuierlichere Erwerbstätigkeit gerade der Mütter verbessert werden. Es braucht auch Investitionen in die Universitäten, der Staat muss sich insgesamt stärker im Bereich von Forschung und Entwicklung engagieren.

Nun, an guten Ideen und Vorschlägen mangelt es in Österreich nicht – es mangelt allein an der Umsetzung.

Ja, das übersteigt leider den Einflussbereich der Wirtschaftsforscherin … Auf Expertenebene herrscht große Übereinstimmung, was die Problemwahrnehmung und -diagnose betrifft: Es sind strukturelle Reformen notwendig! Von uns kommen die Vorschläge und die Ideen, aber die Politik gehorcht ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten und denkt in Wahlzyklen, also kurzfristiger. Dazu kommt dieser spezifische österreichische Föderalismus, der nicht unbedingt für Reformen förderlich ist. Ich glaube, dass der Druck, der Leidensdruck, noch zu gering ist. Man ruht sich noch zu sehr auf den ja in der Tat beträchtlichen Erfolgen der Vergangenheit und der insgesamt noch guten gegenwärtigen Situation aus, statt nach vorne zu schauen und sich den Herausforderungen der Zukunft zu stellen.

In der Zeit, in der Österreich noch als das bessere Deutschland galt, setzte der deutsche Kanzler Schröder seine Agenda 2010 durch, die den deutschen Staatshaushalt über gebremste öffentliche Ausgaben sanierte. Braucht Österreich nun auch so eine Agenda?

Österreich braucht auf jeden Fall ein umfassendes Reformprogramm für den öffentlichen Sektor. Das Pensionssystem, das Fördersystem, das Gesundheits- und Spitalswesen, die föderale Organisation der Aufgabenerledigung – vor allem in diesen Bereichen muss es gelingen, die Ausgabendynamik in den Griff zu bekommen. Auch deshalb, weil in diesen Bereichen sehr wahrscheinlich eine Eindämmung der Ausgabendynamik nicht zu einer schlechteren Qualität der öffentlichen Leistungen führen würde. Ich glaube, dass wir einfach viel Geld ineffizient ausgeben.

Vielen Dank für das Gespräch!

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