Kurt Bereuter

56, studierte BWL, Philosophie und Politikwissenschaften. Organisationsberater und -entwickler, freier Journalist und Moderator, betreibt in Alberschwende das Vorholz-Institut für praktische Philosophie.

Demokratie – eine Lebenseinstellung

April 2020

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch (das Internet, Anm. Verf.), das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Dass der bei weitem größte Teil der Menschen den Schritt zur Unmündigkeit außer dem, dass er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: Dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Geschrieben hat das der große deutsche Philosoph Immanuel Kant, 1783, also in einer Zeit der Aufklärung und somit in einer Zeit, als sich die Demokratie erst auf den Weg machte und in der französischen Revolution ihren ersten neuen Höhepunkt fand, mit den aussagekräftigen Worten: „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“. 
Tatsächlich ist Kants Befund noch heute treffend formuliert und bestätigt das Verhalten einer immer größer werdenden Teilgesellschaft innerhalb der Demokratien, sich von der Politik abzuwenden und den Parteien und deren MandatarInnen das oft als schmutzig bezeichnete Geschäft der Politik zu überlassen und sich zurückzuziehen. Der immer stärker werdende Ruf in den Demokratien nach dem „starken Mann“, der das verdrießliche Geschäft der Politik für die Rufer übernehmen und sie von Beteiligung, Mitwirkung und Mitdenken entlasten soll – der sich aber andererseits gegen Widerstände durchsetzen und sich zum Retter des Volkes aufschwingen soll – dieser Ruf wird lauter. Wer Aufklärung und Demokratie ernst nimmt, für den können beide Entwicklungen nicht die gewünschte Option sein, denn sie zerstören eine umfassende Demokratie im Sinne der Herrschaft der BürgerInnen mit starker Partizipation, wie sie von einer modernen Demokratie erwartet wird. 

Demokratie beinhaltet Haltung und innere Einstellung 

Neben der Freiheit und Gleichheit setzten und setzen die Demokraten das Wort Brüderlichkeit. Dies ist aber allumfassend zu verstehen und meint im Kern die geschwisterliche Zuneigung und Verantwortung gegenüber allen Bürgern und Menschen in einer Demokratie. Der Andersdenkende ist nicht der Feind, den es zu beseitigen gilt, sondern jener, der Mitglied im Hause der Demokratie ist und dort seine Rechte und Pflichten hat. Das bedeutet dann, dass es Regeln der Kommunikation und Regeln der Entscheidung gibt, die für alle gelten und für die es auch ein Commitment gibt, also eine innere Einstellung, diese zu leben und mitzutragen, am besten ohne Sanktionen aussprechen oder ausüben zu müssen. Dabei liegt es in der Natur der Demokratie, dass es in der Regel Kompromisse geben wird müssen, dass keiner alles erreicht und keiner nichts, wenn es denn im Rahmen der demokratischen Rechtsordnung Platz findet. „The winner takes it all, the loser standing small“ ist nicht das Wesen der Demokratie. Vielmehr braucht es die Einstellung, in gemeinsamen Verhandlungen und Diskussionen gerade dadurch zu lernen, das Bessere zu suchen und zu finden, und beinhaltet damit zugleich eine Rücksicht auf Minderheiten, denn sie sind „Brüder“ im Hause der Demokratie und verdienen Rücksichtnahme und Fürsorge. Denn das „Haus“ verlassen sollen sie nicht – im Gegenteil, sich weiter einbringen und am Ganzen mitarbeiten. Das ist auch Auftrag an die Mehrheiten, die dafür zu sorgen haben, und zugleich sind diese für eine Kontinuität im politischen Geschehen verantwortlich. Das hat mit innerer Haltung zu tun und bedarf der Einstellung, sich weiter für die „Verlierer“ zu interessieren und deren Wohl mitzudenken und sie im politischen Prozess zu halten und zur Partizipation zu ermutigen und diese zu ermöglichen. 

Partizipation kommt von Teil des Ganzen sein

Gelebte Toleranz heißt dann, die Meinungen anderer zu erdulden und als die ihre anzuerkennen und mitzudenken. Akzeptieren wiederum ist mehr und meint das Annehmen und sogar Gutheißen einer Entscheidung oder einer Handlung, weil sie nun mal in einem demokratischen Prozess generiert wurde. Und wenn heute in Reihen der Populisten von Establishment die Rede ist, sind damit genau nicht Eliten gemeint, sondern eben „Demokraten“, die es verlernt haben, auf das Gegenüber, die anderen, die Minderheiten sprichwörtlich zu hören und sie im demokratischen Getriebe und im demokratischen Hause zu halten. Sie versprechen, auf sich und ihre soziale Gruppe hin zu entscheiden und zu agieren, aber mit ihrem „Wir“ meinen sie nur sich (und ihre Wählerschaft) und schließen andere aus. Das ist genau nicht Demokratie als Lebenseinstellung. „Wir“ sind in der Demokratie immer alle. Es gilt, als noch so kleiner Teil in der Demokratie aufzustehen, sich einzubringen und voller Hoffnung an einem politischen Prozess teilzunehmen, der es ihnen in der Demokratie per se ermöglicht, aber auch abverlangt. Dieses „verdrießliche“ Geschäft der Politik gehört zu BürgerInnen in einer Demokratie und kann letztlich statt Verdruss, Freude und ein Gefühl der Mitwirkung, aber auch Mitverantwortung mit sich bringen. Kein ernsthafter Demokrat hat je gesagt, dass Demokratie einfach ist, aber es ist das politische System, das es erlaubt, möglichst viel von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu leben. Aber es ist mehr als nur ein System wie die anderen, es ist jenes System, das den Bürgerkrieg durch den möglichst geistvollen Widerstreit in den Parlamenten ersetzt hat, und es bedeutet letztendlich eine mutige und engagierte Einstellung zum Leben, zum eigenen und dem der anderen.

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