David Stadelmann

* 1982, aufgewachsen in Sibratsgfäll, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth, Fellow bei CREMA – Center for Research in Economics, Managemant and the Arts; Fellow beim Centre for Behavioural Economics, Society and Technology (BEST); Fellow beim IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues; Fellow am Ostrom Workshop (Indiana University); Mitglied des Walter-Eucken-Instituts.

 

Die doppelte Betroffenheitsschere

Oktober 2020

Nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 war die Angst groß. Viele Menschen fürchteten sich daraufhin vor Flugreisen. Stattdessen fuhren sie lange Strecken mit dem Auto, was rund 1600 mehr unfallbedingte Todesfälle auf US-amerikanischen Straßen nach sich zog, als sonst zu erwarten gewesen wäre. Lange hielt der Angstzustand der Bürger nicht an. Ihre Furcht wich einer halbwegs vernünftigen Risikoeinschätzung. Bis zur Corona-Pandemie stiegen sie wieder ins Flugzeug, akzeptieren etwas strengere Sicherheitskontrollen an Flughäfen und lebten mit der verbleibenden Restgefahr des Terrors. Hingegen halten die fatalen Konsequenzen der politischen Entscheidungen nach dem 11. September bis heute an: Ein Ende des Kriegs gegen den Terror, der bereits hunderttausende Leben forderte und Billionen Dollar verschlungen hat, ist immer noch nicht in Sicht.
Angst prägte auch das Verhalten der Bürger und insbesondere der Entscheidungsträger während der ersten Corona-Welle im Frühjahr 2020. Im Krieg gegen Corona wurden manche in ihrer Furcht bestärkt, bald selbst jemanden zu kennen, der an COVID-19 gestorben war. Jetzt wäre es an der Zeit, die Furcht durch eine faktenbasierte Risikoeinschätzung zu ersetzen, denn die Ungewissheit rund um Corona ist bedeutend kleiner geworden. Insbesondere die Entscheidungsträger müssen die Lage vernünftig und ganzheitlich analysieren und den Menschen nicht mehr nur als Wirt des Virus, sondern mit all seinen Facetten in den Mittelpunkt stellen. Sonst drohen die Kollateralschäden im Krieg gegen Corona noch schneller anzusteigen. 

Gesundheitliche und gesellschaftliche Betroffenheitsscheren

Zu Anfang der Pandemie herrschte Ungewissheit über das Virus. Nun aber sind die individuellen Risiken klarer. Die Bürger verstehen ihre persönliche Gefährdungssituation durch Corona und die Rolle möglicher Vorerkrankungen immer besser: Alter, hohes Übergewicht und gewisse Vorerkrankungen, die wiederum mit dem Alter zunehmen, treiben das Risiko, schwer an Corona zu erkranken oder daran zu sterben. Eine große, immer klarer umrissene Gruppe von Personen hat sehr kleine Gesundheitsrisiken. Breit angelegte Antikörperstudien schätzen die realen Infektionszahlen und dazugehörige Risiken. Sie zeigen ein Bild, das viele schon vermuten dürften: Für Menschen unter 50 ist eine Virusinfektion nicht besonders gefährlich. So schätzt eine Studie in der Fachzeitschrift The Lancet Infectious Diseases für den Schweizer Kanton Genf, wo in Juni bereits über 10,8 Prozent der Bevölkerung infiziert waren, die Sterbewahrscheinlichkeit für 20 bis 49-Jährige auf 0,0092 Prozent. Diese Zahl ist der jährlichen Unfallsterbewahrscheinlichkeit im Straßenverkehr in vielen Ländern vergleichbar. Insofern wäre es sogar ein profitables Geschäft, dieser Personengruppe eine Lebensversicherung für 100 Euro zu verkaufen, die im Todesfall durch COVID-19 eine Million ausbezahlt. Für alte Menschen ist das Virus hingegen höchst gefährlich und sogar mehrere tausend Mal gefährlicher als der Straßenverkehr. 
Das extrem unterschiedliche Risiko von Corona bewirkt eine gesundheitliche Betroffenheitsschere: Die gesundheitlichen Risiken durch Corona streben systematisch zwischen Kindern, Arbeitstätigen, jungen Pensionisten und insbesondere betagten Altenheimbewohnern auseinander. 
Zugleich wirkt eine zweite, gesellschaftliche Betroffenheitsschere: Durch die bestehenden staatlichen Einschränkungen und die drohenden neuen Maßnahmen steigen die wirtschaftlichen und sozialen Risiken sowie die Zukunfts­ängste schnell an. Diese Risiken sind ebenfalls ungleich verteilt. Sie treffen Arbeitstätige weit mehr als besonders Alte und sind damit genau umgekehrt verteilt wie die gesundheitlichen Risiken von Corona. Eine umsichtige und ganzheitliche Politik muss die gesundheitliche und gesellschaftliche, also die doppelte Betroffenheitsschere, berücksichtigen. 

 

Die Jüngsten sind von den direkten gesund­heitlichen Folgen nahezu nicht betroffen, werden aber am längsten an den Folgen der Krise leiden.

Die Folgen der gesellschaftlichen Betroffenheitsschere

Die Maßnahmen gegen Corona haben bereits zu einer sehr schweren Wirtschaftskrise geführt. In der Eurozone wird mit einem Rückgang von 8,6 Prozent der Wirtschaftsleistung im Vergleich zum Vorjahr gerechnet. Österreich könnte mit -7,0 Prozent weniger schlimm davonkommen als beispielsweise Italien mit -10,8 Prozent oder Frankreich mit -10,2 Prozent. Wirtschaftskrisen führen nicht nur zu finanziellen Schäden, sondern auch zu menschlichem Leid. Dazu gehören Depressionen, Angstzustände, Stress, körperliche Krankheiten, häusliche Gewalt und vieles mehr. In Wirtschaftskrisen steigt auch die Sterblichkeit beispielsweise durch eine Zunahme von Suiziden.
Manche mögen einwenden, dass die wirtschaftlichen Effekte durch die finanziellen Überbrückungshilfen und Staatsausgaben aufgefangen würden und die gesellschaftliche Betroffenheitsschere gar nicht so schlimm sei. Tatsächlich kann ein funktionierendes Staatswesen Einkommensausfälle über einen kurzen Zeitraum überbrücken. Die normale wirtschaftliche Aktivität kann der Staat nicht ersetzen. Je mehr Unsicherheit über die Dauer und erneute Verschärfung der Corona-Maßnahmen herrscht, desto eher drohen Konkurse, Kreditausfälle, Banken-, Schulden-, Währungs- und Staatskrisen. Ansteckungsgefahr darf daher nicht nur auf die Gesundheit der Bürger bezogen werden, sondern ganzheitlich auf die Gesundheit von Unternehmen und Staaten. So sei erinnert, dass die letzte Finanzkrise fast zu einem Zusammenbruch des Euros geführt hätte. Der wirtschaftliche Einbruch aufgrund von Corona ist bereits jetzt größer als der Einbruch in der Finanzkrise. Bei ganzheitlicher Politik geht es nicht darum, Menschenleben gegen „die Wirtschaft“ aufzurechnen. „Die Wirtschaft“ sind wir alle und sie ist Ausdruck der Frucht unserer Schaffenskraft sowie unsere Existenzgrundlage. Vielmehr geht es um eine vernünftige Risikoabwägung unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Betroffenheitsschere. 
Zur vernünftigen Abwägung gehört auch der Blick auf die Jüngsten. Sie sind von den direkten gesundheitlichen Folgen nahezu nicht betroffen, wohl aber massiv von der gesellschaftlichen Betroffenheitsschere. Sie werden am längsten an den Folgen der Krise leiden und bei ihnen droht darüber hinaus eine niedrigere Bildungsrendite als bei bereits im Beruf stehenden Bürgern. Bildungsrenditen geben Aufschluss über die Rentabilität einer Aus- oder Weiterbildung in Form von Lohnvorteilen. International rechnet man mit bis zu 10,1 Prozent pro Schuljahr für die Sekundarstufe und rund 6,8 Prozent pro weiteres Schuljahr nach abgeschlossener Pflichtschulbildung. Natürlich bilden sich die meisten Personen nicht ausschließlich der monetären Erträge wegen. Die Schulpflicht existiert, weil wir glauben, dass Schulbildung zentral für die Zukunft der Jungen und gut für die Gesellschaft insgesamt ist. Insofern ist der gesamtgesellschaftliche Wert insbesondere der Pflichtschulbildung viel höher als die individuelle Bildungsrendite. Die Verluste im Sommerhalbjahr konnten vielleicht durch engagiertes Homeschooling etwas begrenzt werden, trotzdem lassen sich selten derartig hohe gesellschaftliche Renditen erzielen. Insofern ist es befremdlich, Schulen nunmehr vor allem als Viruscluster zu sehen. Die ganzheitliche Sicht wäre, dass Schulen einer der wichtigsten Orte für das zukünftige Leben der Jüngsten sind. 

Abwägen, Abwägen, Abwägen

Die Bürger in demokratischen und freiheitlichen Gesellschaften sind es in Krisen nach einer ersten Schockstarre gewohnt, verschiedenste Güterabwägungen zu treffen. Es kommt im Regelfall über die Zeit zu einem an Vernunft orientierten Diskurs über gesundheitliche, wirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Risiken. Diese werden vergleichend betrachtet und gegeneinander abgewogen. Derzeit starren Politik und Medien immer noch auf die Anzahl der Infektionen sowie die rohen Todeszahlen. Ein ganzheitlicher Blick erfordert, dass Risiken und Risikogruppen differenziert betrachtet werden und alle Vor- und Nachteile von Maßnahmen abgewogen werden. Die Abwägung von Schutzmaßnahmen muss geographisch, nach Risikogruppe und nach Gefährdungslage gemacht werden. Das bringt keinen Flickenteppich, sondern größere Einheitlichkeit in dem Sinne, dass Gleiches gleich behandelt wird. Denn wer Einheitslösungen oder Einheitsschemen fordert und damit Ungleiches gleich behandelt, wird den Bedürfnissen und Interessen aller Risikogruppen nicht gerecht. Schutzmaßnahmen müssen direkt auf die tatsächlich zu schützende Bevölkerung zielen: Altenheimbewohner müssen vor dem Virus geschützt werden, Kinder vor entgangener Bildungszeit. 
Wenn die vielen wenig gesundheitlich Gefährdeten möglichst ungehindert arbeiten können, sind die Ressourcen verfügbar, die zum wirkungsvollen Schutz der gesundheitlichen Risikogruppen nötig sind. Praktizierter Eigenschutz von Risikogruppen sollte als ein Zeichen gesellschaftlicher Solidarität betrachtet werden, denn immerhin werden jüngere und die Bürger mittleren Alters noch schwer und lange mit den bereits entstandenen und wachsenden Kosten der gesellschaftlichen Betroffenheitsschere zu kämpfen haben. Schließlich wäre zur Vermeidung von noch größeren Kollateralschäden infolge des Krieges gegen Corona das explizite Bekenntnis notwendig, dass beim heutigen Wissen über die gesundheitlichen Konsequenzen von Corona ein allgemeiner, gesellschaftlicher Lockdown wie im Frühjahr weder zielführend noch angemessen ist.

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