Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Eine neue Epoche – und wie man sie meistert

November 2018

Über die Zukunft nachdenken? Darüber liegt dichter Bodennebel. Eine berufliche Erfahrung der Ökonomen-Zunft macht mir allerdings Mut: „Langfristige Prognosen sind nie falsch. Es stellt sich erst heraus, wie falsch sie waren, wenn sie schon lange vergessen sind.“ Leichter sind sie trotzdem nicht. Ja, natürlich gibt es Trends. Sie in die Zukunft zu verlängern, ist keine große Rechenkunst, außerdem klingt das meist plausibel. Aber wirklich wertvoll wären sie, wenn sie bevorstehende Trendbrüche oder Wendepunkte erkennen könnten – also etwa „das 21 Jahrhundert: das Jahrhundert Afrikas“ und nicht einfach „das Jahrhundert Asiens“.  

Ein neues Zeitalter

Die meisten ernsthaften Beobachter des Weltgeschehens teilen heute die Ansicht, dass nicht nur die hochentwickelten Länder, sondern die ganze Welt an einer epochalen Zeitenwende angelangt sind. Wir seien Zeitgenossen einer fundamental neuen Epoche der Entwicklung der Menschheit, die ähnlich fundamentale Konsequenzen haben könnte, wie die geistige Wende der Aufklärung und die darauf beruhende industrielle Revolution. Immerhin: Die meisten Prognosen nehmen heute nicht an, dass alles so weitergehen werde wie in den letzten Jahrzehnten. Also keine langweilige Extrapolation, sondern eine starke Ansage: Die Erde und ihre Bevölkerung treten in ein neues Zeitalter ein. Das zeichnet sich immer deutlicher ab.
Erstes Argument: Die Zahl der Erdbewohner und ihre Aktivitäten stoßen an physische Grenzen unseres Raumschiffs Erde. Nein, nicht in erster Linie, weil die Rohstoffe oder die bisher genutzten Energieträger zu Ende gehen. Sondern weil die moderne Lebens- und Wirtschaftsweise Gemeinkapital der Menschheit in Anspruch nimmt und beschädigt, ohne dafür zu zahlen. Die Atmosphäre ist das beste Beispiel. Heizung, Verkehr, Industrie und Landwirtschaft blasen – weitgehend ohne den Schaden, der entsteht, zu ersetzen – als Endprodukte ihrer Aktivitäten Gase in die Luft, vor allem CO2, das wie in einem Glashaus Wärme nicht nach außen in den Weltraum entweichen lässt, sondern das Klima auf der Erde aufheizt. 
Das zweite Argument hängt mit dem ersten zusammen: Die Beziehungen der Völker und Nationen der Erde untereinander sind so intensiv geworden, dass sie eigentlich global geregelt werden müssen. Genauso, wie das Wetter an den nationalen Grenzen nicht kontrolliert werden kann, können die Ströme an Informationen, Know-how, an Kapital, an Steuern oder Schwarzgeld, auch nicht an Touristen, Geschäftsleuten und Migranten lückenlos erfasst werden. Diese internationalen Beziehungen sind entweder absichtlich liberalisiert oder sie entziehen sich dem Staat. Also ist Globalisierung nicht nur ein wirtschaftliches Motiv, sondern auch ein meist umstrittenes politisches Problem, nicht erst seit Trump.
Und schließlich und wohl am schwierigsten zu durchschauen: Die Entwicklung der Naturwissenschaften hin zu Technologien mit faszinierenden Möglichkeiten ist längst im Gang. Digitalisierung von Arbeitsschritten, aber auch des täglichen Lebens nimmt rasant zu. Wohin das führen kann, dafür gibt es gleichzeitig fantastische Visionen unter dem Einsatz von künstlicher Intelligenz. Aber auch Risiken für die Selbstbestimmung von Menschen, ihre berufliche Kompetenz, nicht zu reden von ethischen Überlegungen: Nicht alles, was technologisch machbar ist, ist moralisch unbedenklich.

Gravierende Folgen

Die drei wesentlichen Ursachen für den Anbruch eines neuen Zeitalters haben wahrscheinlich gravierendere Folgen als die Industrialisierung, die vor zweihundert Jahren unsere Welt tiefgreifend veränderte. Sie bedeuten wahrscheinlich mehr Anpassung und Übergang zu anderen Lebensformen als vor Jahrzehnten die Elektrizität oder das Auto. Und das sind längst nicht alle Veränderungen in der vor uns liegenden Epoche. Die Bedrohung der internationalen und leider auch der europäischen Zusammenarbeit durch das Wiedererwachen von Nationalismus, der eine Voraussetzung für die Schrecken des 20. Jahrhunderts war, die wirtschaftlichen und sozialen Effekte der demografischen Alterung in den hochentwickelten Ländern, noch dramatischer: Die Verdoppelung der jungen Bevölkerung in Afrika bis 2050, die schon heute unter Lebensgefahr nach Europa drängt und dazu noch die kriegerischen Zusammenstöße im Nahen und Mittleren Osten, die neue Atomrüstung in den USA und Russland und wo sonst noch, man will das gar nicht genau wissen.

Den Kräften ausgesetzt

Vorarlberg liegt inmitten dieser Welt als Insel des Friedens, eines beachtlichen Wohlstands, der sich auf außerordentliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und eine bemerkenswert gute Infrastruktur stützen kann, und eingerahmt von einer mehr oder minder ähnlich erfolgreichen Nachbarschaft jenseits der Grenzen. Nichts möchte man mehr wünschen, als dass es so bleibe. Aber natürlich ist Vorarlberg auch keine Insel, sondern den Kräften des Weltgeschehens ausgesetzt. Das Land hat es aber bis jetzt verstanden, die Entwicklungen der Welt besonders erfolgreich und vorbildlich zu nutzen und zu meistern. Es ist etwa, was anderswo ein schwieriges Strukturproblem gewesen ist, von einer stark textil-lastigen Industrie erfolgreich umgestiegen auf eine Wirtschaft, die etliche Standbeine hat und hat diese erfolgreich verstärkt. Ich will Ihnen nicht eine lange Liste  eindrucksvoller Unternehmen – nicht nur in der Industrie, sondern auch in Handwerk, Tourismus, der Landwirtschaft, Architektur und in kulturellen und persönlichen Dienstleistungen – präsentieren.
Genau das latente Spannungsverhältnis zwischen Ökologie und Ökonomie kann in einen Vorteil für das Land, seine Bevölkerung und seine Wirtschaft verwandelt werden. Radikale und dogmatische Positionen schaden dabei, gefragt sind nüchterne Überlegung, Hausverstand und neuen Ideen. 

„Das Land für das Besondere“

Zwei Qualifikationen sind in Vorarl­berg charakteristische Stärken des gesellschaftlichen Kapitals: die Orientierung an höherer und höchster Qualität und nicht an Massenware, und andererseits das Bestreben, Probleme zu erkennen, das Bessere zu suchen und neue Lösungen anzubieten. Eigenständigkeit ist ein Wesenszug im Ländle. Das Land suchte in den letzten Monaten eine „Dachmarke“, die Vorarlberg in einer kurzen Aussage kennzeichnet und die auch der Zukunft Orientierung gibt. Ich weiß im Augenblick nicht, ob die schwierige Aufgabe schon gelungen ist. Wenn ich mit einem Wort meine Ansicht ausdrücken sollte, würde ich plädieren für: „Vorarlberg – das Land für das Besondere“.

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