David Stadelmann

* 1982, aufgewachsen in Sibratsgfäll, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth, Fellow bei CREMA – Center for Research in Economics, Managemant and the Arts; Fellow beim Centre for Behavioural Economics, Society and Technology (BEST); Fellow beim IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues; Fellow am Ostrom Workshop (Indiana University); Mitglied des Walter-Eucken-Instituts.

 

Immer „alternativlos“?

Dezember 2021

Weil Corona politisch geworden ist, mangelt es nicht an Schuld-zuweisungen für den erneuten Lockdown.

Der allererste Lockdown im März 2020 wurde von nahezu allen politischen Entscheidungsträgern auf nationaler Ebene als „alternativloser“ Neustart angepriesen, als eine Art Chance, das Virus zu kontrollieren. Das hat bekanntlich nicht funktioniert.
Seit fast einem Jahr gibt es sehr effektive Impfungen. Die eingeimpfte Immunität wirkt für mehrere Monate ähnlich gut wie die natürliche Immunität nach Genesung. Die Impfung senkt die Gefährlichkeit des Virus für alle Altersklassen auf weniger als ein Zehntel. Damit ist das Virus für eingeimpfte und natürlich Immune sogar oft weniger gefährlich als eine saisonale Grippe. Dank breiter Immunität wird Corona immer weniger Krankheit, mutiert aber zum Politikum.
Weil Corona politisch geworden ist, mangelt es nicht an Schuldzuweisungen für den erneuten Lockdown. Für die einen liegt die Schuld im Verhalten mancher Oppositionsparteien, andere beschuldigen störrische Impfverweigerer, wieder andere nennen die späte Booster-Kampagne für vulnerable Bevölkerungsschichten oder eine fehlende Impfpflicht. Aus Sicht der derzeitigen nationalen Regierungskoalition ist der von ihr entschiedene und damit verantwortete x-te Lockdown für Immune und Nicht-Immune zwar kein Neustart mehr, aber er ist wieder einmal „alternativlos“. Er diene dem Gesundheitssystem und der Vermeidung potenzieller Triage-Situationen auf Intensivstationen.

Lockdown ist Triage

Das Gesundheitssystem sollte den Bürgern dienen, nicht umgekehrt. Seit Beginn der Pandemie ist das Gesundheitssystem von Überlastung bedroht. Diese Bedrohung ist aber nach über eineinhalb Jahren Pandemieerfahrung und allgemeiner Impfmöglichkeit nicht nur mehr Folge der Krankheit, sondern mittlerweile auch eine Folge von politischen Entscheidungen. 
Triage scheint derzeit noch ein Schreckwort. Tatsächlich aber war und ist Triage in Form einer Priorisierung immer ein Standard: Notärzte müssen bei Unfällen oft entscheiden, wer zuerst Hilfe erhält. Überall wird mit der Festlegung der Gesundheitsbudgets ganz selbstverständlich über die Überlebenschancen vieler zukünftiger Patienten entschieden. Eine Gesundheitspolitik, die die Mitarbeiterzahl und Bettenkapazitäten in einer Pandemie nicht signifikant ausdehnt, hat eine Triage-Entscheidung getroffen, da sie scheinbar etwas anderes höher priorisiert hat. 
Lockdowns selbst sind vielleicht die größte Triage-Entscheidung überhaupt. Der Unterschied zur Triage auf Intensivstationen ist lediglich, dass die Folgen der notwendigen Priorisierung dort schneller sichtbar werden. Bei Lockdowns ergeben sich die Folgen längerfristig und weniger gut sichtbar. Sie bringen über Effekte auf Wirtschaft, Bildung, Gesellschaft, Psyche, Reduktion medizinischer Leistungen oder Zunahme häuslicher Gewalt ebenfalls Auswirkungen auf Tod und Leben.

Weil Corona politisch geworden ist, mangelt es nicht an Schuldzuweisungen für den erneuten Lockdown.

Kalkül statt Gefühl

Genau weil Lockdowns kurz- und langfristig negative Effekte haben, gilt es, alle Nutzen und Kosten systematisch abzuwägen. Dabei wären die Erfahrungen anderer Länder zu berücksichtigen, um Alternativen zu finden. Bei der Abwägung sollte auf Gefühle möglichst verzichtet werden, denn beim Finden von Problemlösungen kommt es weniger auf das Herz, sondern mehr auf den Verstand an. Anders gesagt, wer wirklich ein Herz hat, versucht große Probleme rational, also kalkuliert, anzuschauen und sie damit besser sowie nachhaltiger zu lösen.
Auf Gefühle möglichst zu verzichten, fällt den meisten Menschen verständlicherweise schwer. Gerade weil in Krisen viele Bürger und auch Medienschaffende selbst im öffentlichen Rundfunk auf Gefühle setzen, hätten insbesondere die politischen Entscheidungsträger die Pflicht, die Probleme besonders rational zu analysieren und vorausschauend zu agieren. Dabei gilt es immer, den Menschen mit allen Facetten in den Mittelpunkt zu stellen. 

Knockdown für den Lockdown

Den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, bedeutet auch, menschliche Reaktionen zu berücksichtigen. Viele Bürger dürften sich mittlerweile bestenfalls halbherzig an die Einschränkungen halten, sich öfter mit Freunden privat statt im Gasthaus treffen, Ferienwohnungen bei „Bekannten“ nutzen etc. Das gilt sowohl für alle Immunen wie auch jene, die ungeimpft sind und insbesondere für jene – immun oder auch nicht – die den Lockdown ablehnen. Die Geimpften fragen sich bereits, wofür sie geimpft sind, wenn der Lockdown auch für sie gilt. Für die Ungeimpften besteht wohl ein noch kleinerer Anreiz, sich überhaupt immunisieren zu lassen. All das dürfte die Effektivität des Lockdowns eher negativ beeinflussen. Extremistische Tendenzen in der Bevölkerung hat der erneute Lockdown bereits gefördert, was ebenfalls einen Kostenfaktor darstellt.
Selbst bei einer Abwägung von Kosten und Nutzen bleiben problematische Anreize für nationale Politiker, egal ob in Regierung oder Opposition. Manche Politiker nutzen die Gefühle der Bürger kalkuliert, jedoch nicht zur Erhöhung deren Nutzens, sondern zu ihrem eigenen Vorteil. Sie streben eher nach kurzfristigen Erfolgen zum Preis langfristiger Kosten. Sie wollen lieber alle Bevölkerungsgruppen gleich behandeln, als eine Gruppe gegenüber einer anderen besser zu stellen, selbst wenn dies sachlich gerechtfertigt wäre, wie bei den Immunen gegenüber den Nicht-Immunen. Dies führt in der Regel zu einer Schlechterstellung aller. Aber eine derartige Politik löst weniger Proteste aus, denn der Einsatz für gute Politik ist ein öffentliches Gut und erfordert Organisation. So ist es unwahrscheinlich, dass sich viele Geimpfte mit Impfskeptikern gegen den Lockdown formieren. Vergleiche mit anderen Ländern werden als unzulässig abgetan, wäre doch die Situation dort völlig anders als hierzulande. Zuletzt müssen nach dem Willen nationaler Politiker auch alle Bundesländer gleich handeln, denn es soll sich nachträglich nicht herausstellen, dass es doch eine echte Alternative gegeben hätte. Die jeweils aktuelle verfolgte nationale Politik soll möglichst „alternativlos“ bleiben.

Kommentare

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Die Mutationen des Virus sind durch die Zwänge, denen die Politik in den Erdteilen (auch bei uns) unterliegt, miserabel kompensierbar. Dazu kommt, dass Pandemie, obzwar seit Jahrhunderten gefürchtet, aussordentlich alten Vorgehensweisen unterliegt. Seit HIV/AIDS ist bekannt, dass ein lokales Problem durch den Flugtourismus schnell ein weltweites wird. Das föderale Vorgehen, wie am Beispiel des Bezirkes Schwaz gezeigt, ist ein alternatives Konzept, das bedacht werden sollte. Die Einbindung von Meinungsträgern pro Impfung, ist in kleinen, regionalen Einheiten hoch wahrscheinlich viel wirksamer wie Strategien und Kampagnen an Ministeriumstischen geplant. Also Knockdown für den Lockdown.