Thomas Feurstein

* 1964 in Bregenz, Studium der Germanistik und Geografie, Biblio­thekar und Leiter der Abteilung Vorarlbergensien an der Vorarlberger Landes­bibliothek seit 1998.

 

„Nichts Gewisses weiß man nicht“

Dezember 2022

So kommentierte das Vorarlberger Volksblatt am 10. Juni 1908 die ungeklärte Ursache für das Zugsunglück, das der Bregenzerwaldbahn einige Tage zuvor, am Pfingstsonntag, widerfahren war. Der am Mittag taleinwärts fahrende Personenzug entgleiste zwischen den Stationen Doren und Langenegg und stürzte in die Hochwasser führende Bregenzer­ache. Aus den Aussagen von Mitreisenden versuchte die Zeitung den Vorfall zu rekonstruieren: „Wie nun Passagiere des letzten Waggons und ein Kondukteur erzählen, hatten sie an der genannten Stelle das Gefühl, als befände sich unter dem Wagen ein größerer Gegenstand – vermutlich ein von der steilen Berg­lehne herabgerollter Felsblock, der von dem rollenden Zuge wenige Augenblicke mit fortgerissen wurde; dann begann der Wagen förmlich zu hüpfen und stürzte plötzlich über die 1,5 Meter hohe Böschung, die drei weiteren Personenwagen mit sich reißend, während der Gepäckwagen und die Maschine auf dem Bahnkörper stehen blieben.“ Zum Glück waren die Waggons mit ungefähr 60 Reisenden senkrecht in der Bregenzerache stehen geblieben, sodass die meisten Betroffenen zwar völlig durchnässt und unterkühlt, aber unverletzt den Zug verlassen konnten. Drei an Bord befindliche Ärzte kümmerten sich sofort um die Erstversorgung der meist nur leicht Verletzten. Auch das Gerücht über eine vermisste Frau, die in den Fluten ertrunken sei, stellte sich als unrichtig heraus, da die gesuchte Wirtin aus Egg den Zug gar nicht bestiegen hatte und wohlbehalten Zuhause angetroffen wurde. Die zerstörten Waggons stammten ursprünglich von der Schmalspurbahn Lambach-Gmunden in Oberösterreich und wurden 1909 durch vier neue Garnituren ersetzt.
Das Zugsunglück 1908 war nur eines der vielen Probleme, die in den Anfangsjahren die Existenz der noch jungen Bregenzerwaldbahn bedrohten. Nachdem sie in einer unglaublichen Kraftanstrengung – zeitweise waren fast 1000 Arbeiter gleichzeitig mit dem Bahnbau beschäftigt – in nur zwei Jahren (1900 bis 1902) erbaut worden war, kam es schon in den ersten Jahren immer wieder zu Betriebsunterbrechungen, da Rutschungen der geologisch labilen Hänge zu Vermurungen der Gleisanlagen führten. So verlegte schon 1905 ein Felssturz die Geleise zwischen den Stationen Krumbach und Oberlangenegg, wo es dann auch 1910 beim Vorarlberger Jahrhunderthochwasser zu starken Schäden kam, was sogar eine viermonatige Betriebsschließung nach sich zog. Die immer wieder notwendigen Sanierungsarbeiten sorgten dafür, dass die finanzielle Lage der Wälderbahn von Anfang an sehr angespannt war.
Die Fotografien, die das Zugsunglück von 1908 zeigen, stammen aus einem Fotoalbum aus dem Besitz von Julius Barta, das kürzlich als Geschenk dem Bregenzerwald-Archiv in Egg übergeben wurde. Er wurde 1879 in Wien geboren und war ab 1905 Lokomotivführer auf dem dritten, täglich fahrenden Güterzug der Bregenzerwaldbahn. Bei Verschub­arbeiten in der Station Doren/Sulzberg verlor er am 7. Mai 1907 zwischen zwei Puffern zwei Finger der rechten Hand, weswegen er seine Tätigkeit als Lokführer beenden musste. Nach Ablegung der vorgeschriebenen Prüfungen wurde er ab 1. Jänner 1910 Bahnhofsvorstand in Egg, bevor er 1912 nach Innerösterreich versetzt wurde, wo er erst 1967 verstarb. Manche Fotografien aus seinem Album lassen sich genau datieren, die anderen auf den Zeitraum von 1905 bis 1912 eingrenzen. Ungeklärt bleibt, ob Barta tatsächlich der Fotograf war, was stark bezweifelt werden darf, da er auf zumindest zwei Fotografien selbst abgebildet ist.
Die Fotografien der Sammlung Barta fanden zwar schon 1989 im Standardwerk von Markus Rabanser und Martin Hebenstreit über die Bregenzerwaldbahn mehrfach Verwendung, öffentlich zugänglich sind sie aber erst seit einigen Tagen über die Bilddatenbank „volare“ der Vor­arlberger Landesbibliothek. Möglich macht dies eine Kooperation zwischen dem Bregenzerwald-Archiv und der Landesbibliothek, bei der das kleinere Archiv mit seinen wertvollen Beständen die digitale Infrastruktur der größeren Landesbibliothek nützt. Via „volare“ erreichen die historischen Fotos so eine größere Verbreitung, da sie seither auch in nationalen und internationalen Portalen, wie „Kulturpool“ und „Europeana“ auffindbar sind. Die Metadaten, die von der Landesbibliothek generiert werden, machen es möglich, dass die Bestände in den Trefferlisten mächtiger Suchmaschinen sichtbar werden: auf diesem Weg gelangen mittlerweile schon 75 Prozent der Besucher zur Bilddatenbank „volare“.
Es sind jetzt zwar nur 79 Fotos aus der Sammlung Barta, die als Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen dem Bregenzerwald-Archiv und der Landesbibliothek veröffentlicht werden können, weitere Kooperationen sind jedoch schon in der Realisierungsphase: bis zum Frühjahr 2023 werden 3600 ausgewählte Fotografien aus dem sehr viel größeren Bestand der Bezauer Fotografenfamilie Hiller, später Berchtel, digitalisiert und veröffentlicht. Da neben dem Bildmaterial auch weite Teile des historischen Geschäftsinventars erhalten sind, entschloss sich das vorarl­berg museum der Sammlung Hiller 2023 eine große Ausstellung zu widmen. Die Originale der Fotografien, meist Glasplatten oder Negative lagern seit der Übergabe aus Privatbesitz in den Räumlichkeiten des Bregenzerwald-Archivs, das in den 1980er-Jahren genau für solche Zwecke gegründet wurde: nämlich umfassendes Gedächtnis der Region zu sein. Sammelgegenstand sind dort nicht nur Verwaltungsakten, sondern auch privates Schriftgut sowie originale Fotografien. War das Archiv zunächst ehrenamtlich geführt, kam es 2008 nach der Übernahme durch die Regio Bregenzerwald zu einer deutlichen Professionalisierung. Nach der Anstellung einer Archivarin, wurde 2010 die Verwaltungsgemeinschaft Bregenzerwald-Archiv gegründet, der fast alle Bregenzerwälder Kommunen angehören, und seit 2014 stehen im Ortszentrum von Egg adäquate, klimatisierte Depoträumlichkeiten sowie ein Arbeits- und Benutzerraum zur Verfügung. Somit sind optimale Voraussetzungen für fruchtbare Kooperationen gegeben: das originale Kulturgut kann in der Region bleiben, die Landesbibliothek sorgt für die Digitalisierung und Veröffentlichung des Bildmaterials und das vorarlberg museum bringt seine Kompetenz bezüglich Ausstellungsgestaltung und Kulturvermittlung ein.

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