Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Skeptischer Blick auf die Nach-Corona-Welt

Februar 2021

Die Pandemie des Corona-Virus hat nahezu alle Nationen der Erde erfasst und schwere Schäden angerichtet. Ökonomen, Virologen und Politiker tun sich mit der Einschätzung, wie es weitergehen könnte, sehr schwer, weil passende historische Erfahrungen weitgehend fehlen. Am ehesten erinnert der bisherige Verlauf an die mehrfachen Wellen, die die „Spanische Grippe“ am Ende des Ersten Weltkriegs in den vom Krieg ausgelaugten Nationen anrichtete.
Die Krise ist nicht vollkommen unerwartet über die Menschheit hereingebrochen: Auf die Gefahr, dass Viren, die es in der Natur in großer Zahl gibt, auf Menschen überspringen und dort stark infektiös wirken könnten, haben vorher Fachleute und Verantwortliche mehrfach und sehr deutlich hingewiesen, ohne dass dies rechtzeitige und ausreichende Vorkehrungen ausgelöst hätte. Natürlich sind solche Situationen schwer vorhersehbar und politisch nicht sehr attraktiv, weil sie die öffentlichen Haushalte zu Lasten dringlicher erscheinender Aufgaben belasten würden. Dass die viel intensiver gewordene globale Arbeitsteilung das Transportvolumen und die Reisetätigkeit enorm steigern, wurde immerhin als Risiko eingestuft. Gleichzeitig lässt auch der Klimawandel ungewöhnliche Infektionen in Klimazonen auftreten, in denen Krankheitsträger aus tropischen Gegenden bisher nicht heimisch waren. 
Mehr als ein Jahr nach dem Ausbruch ist die Pandemie noch nicht unter Kontrolle. Der Einsatz von außerordentlich rasch entwickelten Impfstoffen hat eben erst begonnen. Die Umstände ihrer Brauchbarkeit insbesondere für Mutationen des Virus werden gerade erst erforscht. Ob bis Mitte 2021 eine ausreichende Immunisierung der Bevölkerung die Krankheit zum Stehen bringen wird, ist noch nicht geklärt; aus heutiger Sicht eher nicht! 
Wirkungsvolle Strategien gegen die Ausbreitung der Infektion verlangen den Verzicht auf enge zwischenmenschliche und gesellschaftliche Kontakte. Das verursacht nicht nur den Verzicht auf persönliche und familiäre Bewegungsfreiheit, sondern insbesondere auch drastische Einschränkungen der innerbetrieblichen Zusammenarbeit, starke Einschränkungen der persönlichen Kontakte mit Kunden und Unterbrechungen des Schulunterrichts. 
Ökonomen und Politikern stellt sich nicht nur die Frage, welche Belebung der Wirtschaft eine Aufhebung der gesundheitspolitisch vorrangigen Kontaktbeschränkungen erwarten ließe. Die Krise brachte nicht nur konjunkturell-kurzfristige Effekte, die sich bei Wegfall der Hindernisse ausgleichen können. Die Corona-Krise trat gleichzeitig mit den Problemen und Potentialen der digitalen Revolution und ebenso mit ersten ernsthaften Schritten zur grundlegenden Umstellung des Energiesystems im Interesse der Klimapolitik ein. 
Die langfristigen Veränderungen bedrohen einerseits traditionsreiche Geschäftsformen etwa im Einzelhandel - Versandhandel oder temporäre Benützung und Vermietung teurer Konsumgüter. Andererseits ist damit zu rechnen, dass Wirtschaftssubjekte und Politik Lehren aus der Krise ziehen und ihr Verhalten ändern: Konsumenten könnten dazu neigen, längerfristig höhere Ersparnisse zu bilden. Auch die Risikoeinschätzung von Investoren könnte auf Dauer höhere Grade an Vorsicht oder Standfestigkeit annehmen. Dass auch die Politik längerfristig wirkende Schlussfolgerungen aus dem Hergang der Krise ziehen müsste, rundet das Bild strukturell veränderter Prioritäten als Hinterlassenschaft der Krise ab. International bedeutende Ökonomen sprechen daher nicht so sehr von der Hoffnung auf einen „Konjunkturaufschwung“, als von einer erst schemenhaft erkennbaren Post-Pandemie-Welt. 
Je länger allerdings der Virus-Lockdown aufrechterhalten werden muss, desto eher droht die Gefahr einer bisher weitgehend vermiedenen internationalen Finanzkrise. Die Hoffnung, durch Lockerung der Einschränkungen persönlicher Kontakte einigermaßen bald wieder die Beschäftigungs-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Zeit vor der Krise herbeiführen zu können, ist unter Ökonomen weniger verbreitet als die Hypothese einer mehrjährig eher gedämpften Wirtschaftsdynamik. 
Der Unterstützung notleidender Bevölkerungsgruppen und der Verhinderung von unnötigen Zusammenbrüchen durch den Staat sind auch in einer Notsituation selbstverständlich Grenzen gesetzt. Im zweiten Jahr der Pandemie muss die Politik dennoch signalisieren, dass steigende Verschuldung des Staates die bedrohte Wirtschaft nicht grenzenlos stützen kann. Von dieser müssen innovative Konzepte und Neuorientierung erwartet werden. 
Die Verschuldung des Staates auf den Kapitalmärkten durch die Stützungsmaßnahmen und die Kosten für den erhöhten Gesundheitsaufwand steigt von 2019 bis 2022 um rund 20 Milliarden Euro. Die Erfahrungen nach der internationalen Finanzkrise, vor allem um das Jahr 2010, lehren, nicht allzu rasch nach der Konsolidierung der Staatsfinanzen zu rufen, um nicht einen weiteren Konjunktureinbruch zu riskieren. 
Die Corona-Krise hat bisher, grob geschätzt, in Österreich rund 50 Milliarden Euro an entgangener volkswirtschaftlicher Wertschöpfung (nominelles BIP im Vergleich zum bisherigen Trend) gekostet. Dazu kommen riesige Vermögensverluste nicht nur durch die sprunghafte Ausweitung der Staatsschulden, sondern auch durch die Abwertung privater Investitionen mit geringer Aussicht auf eine Fortsetzung des abrupt beendeten Booms. Um sich davon ein Bild zu machen, genügt ein Blick auf die menschenleeren Hotel- und Seilbahnanlagen in Ischgl oder Sölden. 
Gegen die Überlastung der Staatsfinanzen durch hohe Schulden werden besonders zwei Argumente vorgebracht: einmal, dass ihre Tilgung und Verzinsung auch Altersklassen belastet, die der Kreditaufnahme noch nicht zustimmen konnten oder noch ungeboren sind. Zum anderen büßt ein Staat an Kreditwürdigkeit ein oder ist auf ungünstige Konditionen verwiesen, wenn seine Verschuldung als längerfristig untragbar eingeschätzt wird. Griechenland ist eine rezente Erfahrung in dieser Richtung, die bis zum Zusammenbruch der Staatsfunktionen führen kann. 
Die ökonomische Wissenschaft hat sich erst relativ wenig mit der Frage beschäftigt, wie diese Problematik auf längere Sicht zu beurteilen wäre: dass aus Sorge um die zu hohe Verschuldung Maßnahmen unterbleiben, deren Nutzen weit in die Zukunft reichen würde. In einer Zeit, in der sich gleichzeitig mit der Bekämpfung der Viruskrise auch der Bedarf an hohen Investitionen zur Vermeidung des anhaltenden Klimawandels dringend erscheint, gerät die Politik in ein ernstes Dilemma: Vertretbare Politik verlangt in einer solchen Situation Augenmaß und Erfahrung der verantwortlichen Politiker und möglichst viel Verständnis von der betroffenen Bevölkerung.

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