Hans-Peter Metzler

Alt-Präsident der Wirtschaftskammer Vorarlberg

(Foto: ©Markus Gmeiner)

Was auf dem Spiel steht

Juni 2021

Sich zu Europa zu bekennen und sich als Europäer zu verstehen, das fällt in Zeiten wie diesen nicht leicht: Wie und wann soll Europa denn funktionieren und den europäischen Gedanken rechtfertigen, wenn nicht in einer solchen Krise, in der alles am Prüfstand steht und Gewohntes nicht mehr funktioniert? Doch anstelle gemeinsamer Lösungen sind Nationalstaatlichkeit und Eigeninteressen in den Vordergrund getreten, im bizarren Versuch, ein Virus, das keine Grenzen kennt, mit der Wiedererrichtung von Grenzen zu bekämpfen. Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot hatte zu Recht kritisiert: „Wir haben bei Ausbruch der Pandemie tatsächlich gesehen, dass Europa in Krisenzeiten nicht handeln kann.“
Europa versagt in dieser Situation, wie Europa bei vielen großen Herausforderungen der letzten beiden Jahrzehnte versagt hat. Europa, sagen Kritiker, regelt das Kleine, aber versagt im Großen. Guérot, um die kritische Dame nochmals zu zitieren, erinnert daran, dass alles, „wovon wir heute leben und worauf wir heute in Europa stolz sind“, auf Systemänderungen zurückgehe. Man könnte anfügen: Auf Systemänderungen längst vergangener Zeiten. Es waren die Gründungsväter und nachfolgend weitblickende Politiker, die Europa zum bis dato größten demokratisch legitimierten Projekt gemacht hatten; es waren – um ein Vorarlberger Beispiel zu nennen – glühende Europäer wie Alt-Landeshauptmann Martin Purtscher, die aus der einstigen Utopie eines geeinten Europas eine Realität konstruierten. Aber heute? Wo sind diese Politiker? Wo sind diese Visionäre? Oder, um nochmals mit Guérot zu sprechen: Bekommen wir das noch einmal hin, was einst das europäische Lebenselixier war: Aus der Erfahrung einer Krise einen Systemwechsel herbeizuführen?
Es gibt ein Bild, das viel aussagt und zeigt, was für Europa auf dem Spiel steht, im weltweiten Wettstreit mit den anderen Systemen: Stellt man sich die Welt als ein Dorf mit einhundert Einwohnern vor, dann sind von diesen 100 Einwohnern gerade einmal sechs Europäer. Tendenz sinkend. Das zeigt die Dramatik, das zeigt die Wichtigkeit, künftig mehr Europa haben zu müssen und nicht weniger. Es werden weitere Verwerfungen kommen, Verwerfungen, die nur im Miteinander und nicht im Alleingang gelöst werden können. Und wenn die Gegner Europas davor warnen, dass mehr Europa zu weniger Identität seiner Bürger führt, dann kann man da nur sagen: So wie –beispielsweise – ein Bregenzerwälder in Vorarlberg und ein Vorarlberger in Österreich seine Identität hat und bewahrt, so wird auch der Österreicher in Europa seine Identität haben und bewahren. 
Wir haben Europa zu diskutieren, wir haben Europa zu reformieren und durchaus auch neu zu starten, aber eines haben wir tunlichst zu unterlassen: Am Sinn des geeinten Kontinents zu zweifeln. Denn gerade dieser Rückzug hinter nationale und gedankliche Grenzen im Rahmen der Pandemie zeigt, dass wir zu wenig Europa haben und nicht zu viel.

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