Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Was die Pandemie über Wissenschaft, Politik und Gesellschaft enthüllt hat

März 2022

Die Naturwissenschaft ist so kompliziert, dass ich nicht viel davon verstehe. Beurteile, ob das für Dich zutrifft“: Frage aus einer Barometer-Erhebung der EU1) mit einigen tausend Respondenten. 19 Prozent der Befragten in Österreich stimmten diesem Standpunkt kleinlaut zu. Deutsche und Schweizer haben eine höhere Selbsteinschätzung: neun Prozent der in Deutschland Lebenden und vier Prozent der Befragten in der Schweiz meinten, sie verstünden von der modernen Wissenschaft immerhin einiges. 
Das Unbehagen mit der modernen Wissenschaft und mit den Leistungen der Forschung wurde in der Corona-Krise aktuell. Es lässt sich teilweise mit einem geringen Wissensstand begründen: Wie ein Laser funktioniert, können 42 Prozent der Befragten in Österreich nicht sagen, aber nur 18 Prozent in Deutschland und 13 Prozent in der Schweiz. Österreich wird bei diesem Thema gerade noch von Albanien eingeholt. Und die österreichische Bevölkerung führt noch immer in höherem Ausmaß den Klimawandel auf natürliche Vorgänge zurück (30 Prozent der Bevölkerung, gleich viel wie in Bosnien), aber nur 21 Prozent der deutschen und 16 Prozent der Schweizer Bevölkerung. Die irrige Meinung, dass Antibiotika sowohl Viren wie Bakterien töten, wird in Österreich von 26 Prozent der Bevölkerung geglaubt, in Deutschland jedoch nur von neun Prozent und in der Schweiz nur von fünf Prozent. (Was ist mit dem Biologie-Unterricht in Österreich los?) 
36 Prozent der Deutschen und 31 Prozent der Schweizer halten die Grundlagenforschung in ihren Ländern jener im Durchschnitt der EU für überlegen, aber nur 13 Prozent der Befragten in Österreich sind ähnlich selbstbewusst. 28 Prozent der Bevölkerung in Österreich meinen, die ersten Menschen hätten die Erde zur Zeit der Dinosaurier besiedelt, aber nur neun Prozent in Deutschland und fünf Prozent in der Schweiz glauben diesen Unsinn. Nur 12 Prozent der Familien in Österreich diskutiert im Familienkreis Fragen der Technologie und der Wissenschaft, aber 25 Prozent der Deutschen und 32 Prozent der Schweizer. „Das Interesse der Jugend an Wissenschaft ist wesentlich für unser künftiges Wohlergehen.“ Dem stimmen in Deutschland 55 Prozent, in der Schweiz 49 Prozent zu, in Österreich jedoch nur 27 Prozent. Mangelt es vielleicht am Unterricht der einschlägigen Fächer, liegt es an den Medien oder an alternativen Interessen? Möglich, 32 Prozent der jungen Menschen in Österreich beschäftigen sich lieber mit sportlichen Aktualitäten, aber nur 21 Prozent jener in der Schweiz und 19 Prozent in Deutschland. 
Helga Nowotny, bis 2013 mächtige (österreichische) Präsidentin des Europäischen Forschungsrates, führt das unzulängliche Interesse an Fragen der Wissenschaft auf eine „tiefsitzende Gleichgültigkeit der Bevölkerung“ zurück. Von hier ist es nur ein kurzer Weg zur Feststellung, dass auch der Politik in Österreich Fragen der Wissenschaft und der Bildungspolitik nicht vorrangig erscheinen, schon gar nicht in Zeiten einer Pandemie und des Klimawandels. 
Welche Erkenntnisse können aus den Erfahrungen mit der Pandemie und aus den Zusammenhängen mit der Digitalisierung und Globalisierung gezogen werden?
Kurzfristige Überlegungen, die Bildung von ad-hoc- Kommissionen und Neuregelung der Sperrstunde und des Maskentragens sind zweifellos unumgänglich. Aber sie sind nicht oberste Erkenntnisse, die aus der Pandemie zu ziehen sind. Sollte tatsächlich die akute Bedrohung durch COVID-19 in diesem Jahr allmählich abklingen, dann wäre es höchste Zeit, Schlüsse aus den Kalamitäten zu ziehen, die die unerwarteten Probleme in den Jahren 2020 bis 2022 aufgeworfen haben. Unvermeidlich werfen Erfahrungen und intensive Anstrengungen der Forschung Schatten auf die kommenden Jahre voraus. Das beschränkt sich keineswegs auf Tagesaktualitäten, sondern auf die langfristigen Vorkehrungen für das Gedeihen der künftigen Gesellschaft.

1) Eurobarometer Spezial 516, April-Mai 2021

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