Simon Groß

Vorarlberger Gemeindeverband

Wie Vorarlberg einst zum Erdgas kam

September 2022

Der „saubere“ Energieträger Erdgas kam in Vorarlberg erst zwischen Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre mehr oder weniger flächendeckend zum Einsatz. Noch bis 1979 wurden 75 Prozent der gesamten verbrauchten Energie im Land aus Erdölprodukten gewonnen. Ironischerweise wurde Gas – aktuell ein knappes und teures Gut – einst selbst als saubere und günstige Alternative zum Erdöl gesehen und sollte von dessen Abhängigkeit lösen.

Die zahlreichen „Booms“ seit dem Zweiten Weltkrieg haben unseren Wohlstand auf ein hohes Niveau gehoben. Doch materieller Wohlstand ist energieintensiv: „Der stetig steigende Energieverbrauch während der intensiven Wachstumsphasen musste aus verschiedensten Quellen gedeckt werden – etwa aus Kohle, Erdgas, Erdöl, Brennholz oder durch Wasserkraft sowie Kohle-, Erdöl- und Gas-Verstromung“, erklärt der gebürtige Wolfurter Umwelthistoriker Robert Groß.

Vorarlberg setzt spät auf Gas
Österreich bezog ab 1968 als erstes westeuropäisches Land sowjetisches Erdgas, welches aber vorerst nur in die Ferngasnetzwerke im Osten Österreichs eingespeist wurde. Währenddessen entwickelte Vorarlberg eine überdurchschnittlich große Abhängigkeit von Erdölprodukten wie Heizöl, Diesel oder Benzin. „Rund 75 Prozent der verbrauchten Energie entfiel 1979 auf Erdölprodukte, während der österreichische Durchschnitt bei lediglich 48 Prozent lag“, erklärt der Umwelthistoriker. Die Ölkrise – mit Blick auf die momentane Gasknappheit betrachtet dürfte sich das damalige mit dem heutigen Stimmungsbild gut decken – zeigte deutlich, dass kein Weg mehr an Alternativen vorbeiführte. Das überall rasch steigende Interesse an Erdgas war auch in Vorarlberg zu bemerken, es wurden bald weitere Importmöglichkeiten ausgelotet. „Man wusste von Erdgasvorkommen und dessen Nutzung in Baden-Württemberg. Es kam zu einer Kooperation mit dem ‚Zweckverband Oberschwaben‘, welcher eine Ferngasleitung via Ravensburg und Lindau betrieb. Von dieser Leitung wurde bald auch das Gaswerk in Bregenz versorgt“, erklärt der Experte. Bereits 1973 hatte die Austria Ferngas GmbH (AFG) Anteile an dieser Leitung erworben. „Allerdings ging es hier in erster Linie nicht um die Versorgung Vorarlbergs, sondern darum, aus der Abhängigkeit sowjetischen Erdgases zu kommen, da man über diese Leitungen auch Gas beispielsweise aus Algerien beziehen und in die östlichen Bundesländer weiterleiten konnte“, sagt Groß.

Erdgasboom
Bis Ende der 1970er-Jahre gab es im Land einen geschäftigen Leitungsausbau, um rasch Anschluss an das europäische Gasnetz zu erhalten. „Die nötige Infrastruktur wurde auf Betreiben der Landesregierung erschaffen, während die Import- und Lieferverträge von der OMV abgewickelt wurden. Das schuf die Grundlagen für einen Erdgasboom in Vorarlberg, der sich an den Gasanschlüssen ablesen lässt“, betont Groß. So gab es 1975 im Land noch 4.578 private und 321 gewerbliche Anschlüsse, im kommenden Jahrzehnt waren es insgesamt 6.557 Anschlüsse. Dann ging es sprunghaft nach oben: 1990 wurden bereits 13.472 Anschlüsse gezählt. „Insbesondere die gewerblichen Anschlüsse nahmen durch die Anbindung an das europäische Gasnetz rapide zu – von nur rund fünf Prozent 1985 auf über 20 Prozent Anfang der 1990er-Jahre. Und damit wurde auch der Ausbau des regionalen Erdgasnetzwerks entlang der Industriegebiete vom Rheintal bis ins Walgau massiv vorangetrieben“, führt der Umwelthistoriker aus.

Saubere Alternative
Aus dem Nischenprodukt Erdgas war ein konkurrenzfähiger Energieträger geworden, der vor allem die Erdöl-Abhängigkeit beseitigen sollte und obendrein günstiger war als die üblichen fossilen Brennstoffe. Zudem liegt der Vorteil von Erdgas nach wie vor in der weitaus saubereren Verbrennung gegenüber Kohle oder Erdöl. „Das wurde vor allem auch im Sinne des Umwelt-, Luft- und Klimaschutzes von der Vorarlberger Landesregierung erkannt und propagiert – ‚lieber Erdgas als Kohle oder Erdöl‘ lautete hier die Devise“, sagt Groß. Umweltschutz bedeutete lange Zeit, Umweltprobleme technisch mit Filteranlagen, Katalysatoren oder Kläranlagen, in den Griff zu bekommen. An der enormen Zunahme des Energie- und Ressourcenverbrauchs änderte das wenig. Doch zahlreiche Unfälle und Umweltkatastrophen rückten die Gefahr der Gewinnung und Nutzung fossiler Brennstoffe für die Umwelt doch immer mehr ins Bewusstsein. In den 1970er-Jahren wuchs damit der Einfluss erster Umweltbewegungen und auch die Ablehnung der Atomkraft in Österreich trug zur Popularisierung von Erdgas bei.

Neue Bedingungen, neues Geschäft
Auch wurde in dieser Zeit eine Reihe neuer Gesetze und Vorschriften erlassen – etwa in Sachen Kanalisation, Abwasser und Müll – und Ende 1970 trat das Emissionsschutzgesetz in Kraft. Die neuen Gesetze und der daraus resultierende Umgang mit Ressourcen und der Umwelt gewannen nicht nur an gesellschaftlicher Bedeutung. Entsorgungs- und Verwertungsbetriebe und vor allem auch Energielieferanten erschlossen sich dadurch neue Märkte und Geschäftsfelder. Die Energieversorger erkannten ihre Chancen und sprangen auf das moderne Erdgas auf. Günstige „Thermentauschaktionen“ – bereits Anfang der 1920er-Jahre war in Städten wie Bregenz oder Dornbirn noch mit giftigem und nicht gerade umweltfreundlich hergestelltem Kohlegas geheizt – inklusive attraktiver Lieferverträge waren im Privatkundenbereich verlockend. Obendrein konnte mit günstigen Preisen, einer sauberen und effizienten Nutzung und vergleichsweise höherem Brennwert bei weitaus wenig Emissionen geworben werden. Eine Win-win-Situation.

Gewohnheiten ausmerzen
Selbst wenn Gas seine gewissen Vorteile in Sachen Emissionen hat, gerade bei diesem Energieträger stehen die Chancen einer Versorgung ohne Abhängigkeit schlecht. Und die Krux günstiger und vermeintlich unschädlicher Technologien sind sogenannte Rebound-Effekte, erklärt Groß: „Neue und effiziente Technologien helfen zwar beim Energiesparen. Wenn aber weniger für den gefahrenen Kilometer oder die Kilowattstunde Strom bezahlt wird, ist es auch verlockend, mehr Kilometer zu fahren oder weniger sorgsam mit dem Stromverbrauch umzugehen. Der Verbrauch steigt, obwohl die Technologie eigentlich anderes Potenzial hätte.“ Angesichts der aktuellen Lage und fehlender Alternativen wird uns das Sparen allerdings nicht erspart bleiben. „Doch der nächste Schritt“ – so traue Groß es sich, als Historiker vorsichtig einen Blick in die Zukunft zu werfen – „ist, ganz egal ob Gas oder Sonne, ob Wind oder Wasser, schlechte Gewohnheiten auszumerzen. Heute verbraucht ein Haushalt etwa doppelt so viel Strom als noch 1980. Wer in den 80ern gelebt hat, weiß, dass es damals auch modern, komfortabel und sicher war. Ein bisschen Reduktion hier und da täte gut, wir müssen nur herausfinden, wie unser Wohlstand nicht darunter leidet oder Wohlstand eben neu definieren.“

Zur Person
Robert Groß
 studierte Interdisziplinäre Umweltwissenschaft an der Uni Wien und schloss 2017 ein Doktorat in Umweltgeschichte an der Uni Klagenfurt ab. Es folgten mehrere wissenschaftliche Stationen, unter anderem als Fellow am Zentrum für Wissenschafts- und Technikgeschichte in München und als Universitätsassistent am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie an der Uni Innsbruck von 2018 bis 2021 sowie parallel dazu Projektmitarbeiter an der BOKU Wien. Derzeit forscht und arbeitet Groß im Rahmen des „EVN 100 Fellow“ zur Umweltgeschichte der Erdgasversorgung Österreichs.

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