Ein Schritt Richtung Zukunft
Eine preisgekrönte deutsche Gesamtschule weckt weitere Begehrlichkeiten. Ende Oktober reist eine 40-köpfige Vorarlberger Delegation nach Niedersachsen, mit dem Ziel, Anleihen beim dortigen pädagogischen Konzept zu nehmen – für eine Modellregion Hofsteig.
Mit großem Erfolg besuchen 1500 Schüler die IGS Göttingen, betreut von 150 Lehrern: Die Absolventen der 2011 zu Deutschlands Schule des Jahres gekürten Gesamtschule zählen zu den zwei, drei besten Prozent Deutschlands – in Ausgabe eins hatte „Thema Vorarlberg“ Konzept und Grundzüge der renommierten Gesamtschule in Niedersachsen ausführlich vorgestellt. Ende Oktober wird Christoph Jenny, Bildungsexperte der Wirtschaftskammer Vorarlberg, eine weitere Exkursion durchführen und mit insgesamt 40 Personen – Lehrern, Elternvertretern und verantwortlichen Gemeindepolitikern der Region Hofsteig – nach Göttingen reisen. Eingebunden sind dabei die Mittelschulen Wolfurt, Lauterach, Hard-Markt und Höchst sowie das Bundesoberstufenrealgymnasium (BORG) Lauterach.
„Die persönlichen Wahrnehmungen in Göttingen“, sagt Jenny, „haben ein gewisses Ansteckungspotenzial, sie öffnen einem die Augen, wie die Schule der Zukunft funktioniert.“ In der Tat: Gudrun Brunner, Direktorin der Mittelschule Höchst, hatte sich ebenfalls in einer von Jenny geführten Exkursion vor Ort ein Bild gemacht. Ihre Erkenntnisse? „Besonders beeindruckend war, dass das Konzept der IGS Göttingen in allen Bereichen gelebt wird“, berichtet Brunner, „von Schülern, Lehrern, Sozialarbeitern, Schulmitarbeitern und Eltern gleichermaßen.“ Und angesichts des weitläufigen Schulgeländes – die IGS verfügt unter anderem über einen Theater- und einen Kinosaal, eine große Bibliothek und einen Naturpark – sei sie „überwältigt gewesen von der einladenden, lebendigen Atmosphäre“. Die Architektur in Göttingen ist in der Tat beeindruckend. Werden landläufig Schulen zuerst errichtet und erst danach gefragt, welche Klasse in welchen Raum einziehen soll, ging man in Göttingen Anfang der 1970er-Jahre den umgekehrten Weg: Zuerst wurden die konkreten Bedürfnisse in ein Konzept gegossen, und dann wurde gebaut. Auf hiesige Verhältnisse ist diese Vorgangsweise freilich nur schwer übertragbar. Aber was übernommen werden kann, sind Teile des dort verwendeten pädagogischen Konzepts. Und das ist Ziel der Exkursion Ende Monat – vor Ort nach konkreten Anleihen zu suchen. Einige dieser Elemente: An der IGS Göttingen wird die Arbeit in Teams großgeschrieben, werden die Eltern der Schüler intensiv mit eingebunden, gibt es in den Klassen keinen Frontalunterricht. Schüler lernen zu sechst an Tischgruppen, Starke und Schwache gemischt. All diese Elemente führen letztlich zu einer Haltung, die jeden einzelnen Schüler und seine Potenziale in den Mittelpunkt stellt.
Der Erfolg gibt den Verantwortlichen recht. Weniger als ein Prozent der Schüler verlassen die Schule ohne Abschluss, eine der auf einer Tafel im Konferenzraum schriftlich festgehaltenen Regeln lautet: „Den Schulwechsel eines schwierigen Kindes nimmt die Schule nicht als Erleichterung, sondern als Niederlage.“ IGS-Direktor Wolfgang Vogelsaenger sagt schlicht: „Wir haben eine Aufgabe: jedes Kind gut durch die Schule zu bringen.“ Es ist diese grundsätzliche Haltung, diese Einstellung der Lehrer, die auf unsere Schulen übertragen werden soll.
Der Prozess ist eingeleitet
Geht Vorarlberg nun einen wichtigen Schritt in Richtung Zukunft? Wird über eine reine Modellschule hinaus in der Region Hofsteig eine Modellregion geschaffen? Der Schulentwicklungsprozess scheint jedenfalls eingeleitet, die eingebundenen Schulen sollen sich nach Göttinger Vorbild entwickeln, eben in der Region Hofsteig, die laut Jenny „mit motivierten Direktoren und den schulischen Voraussetzungen ideal für eine Modellregion in Vorarlberg geeignet ist“. Und dass die Vision konkreter zu werden beginnt, das zeigen auch die nächsten Schritte: Bereits Anfang November werden an vier Tagen in allen beteiligten Schulen eigene Workshops stattfinden, in denen erörtert wird, welche Teile des Göttinger Konzepts übernommen werden können. Direktor Vogelsaenger nimmt an jedem Workshop teil, wissenschaftlich begleitet wird der Prozess von Vertretern der Universitäten Göttingen und Innsbruck sowie von der Pädagogischen Hochschule Feldkirch. In Bälde wird zudem ein von der Wirtschaftskammer in Auftrag gegebener Film zur IGS Göttingen fertiggestellt sein, der den Projektschulen zur Verfügung gestellt – und auf www.themavorarlberg.at auch online zu sehen sein wird. Heißt unter dem Strich: Es bewegt sich etwas in der Bildungslandschaft. Vorarlberg beginnt, die Zukunft der Bildung selbst zu gestalten, während auf bundespolitischer Ebene weiterhin ideologische Blockade und Stillstand herrschen.
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