Gerold Strehle

geboren 1974 in Linz, Architekt, Gründer des Büros für Architektur und Umweltgestaltung in Bregenz und Wien

© Foto: Angela Lamprecht

Das Ende des öffentlichen Raums

Mai 2020

Zugegeben – die Eindrücke der jüngst kolportierten Bilder öffentlicher Plätze muss ich erst verarbeiten: eine menschenleere Albertina in Wien, eine verwaiste Place de la Concorde in Paris, der Times Square in New York mit einer Handvoll Spaziergängern … Meine Gefühle beim Betrachten dieser Leere befremden mich zutiefst und pendeln irgendwo zwischen Apokalypse, Dystopie, Nordkorea oder Pripyat nach der Evakuierung Ende April 1986 …
Die Leere im öffentlichen Raum und der Appell zur maximalen Reduktion sozialer Kontakte veranschaulichen exemplarisch, aus welchen Bausteinen „öffentliches“ Leben – wie wir es alle kennen und alltäglich praktizieren – zusammengesetzt sind: Sowohl der gebaute Raum als auch der soziale Austausch darin sind untrennbar miteinander verbunden. Auch wenn unsere Gattung häufig als Homo oeconomicus beschrieben wird, verleugnet man dabei den Ursprung und die Identität unseres sozialen Wesens.
Keiner hat diesen Zusammenhang so genau auf den Punkt gebracht wie der Baugruppengründer Heinz Feldmann, gebürtiger Bregenzer und Mitinitiator des Wohnprojekts Wien, eines der wegweisendsten Wohnbauprojekte der letzten Jahre: „Für das Teambuilding und die Organisation der Baugruppe haben wir gleich viel Zeit und Energie investiert wie für die Planung des Gebäudes!“ Diese Gewichtung von 50 Prozent materieller zu 50 Prozent sozialer Projektentwicklung belegt nicht nur die Wichtigkeit von sozialem Kapital, sondern auch die Bedeutung sozialer Rendite: Im Falle des Wohnprojekts Wien besteht die Rendite nicht nur aus einer funktionierenden und lebendigen Nachbarschaft, sondern auch aus einem städtebaulichen Schlüsselprojekt, dessen Wirkung weit über das Quartier hinausstrahlt.
Wer übernimmt die Verantwortung im Wirkungsbereich eines Quartiers, wenn es nicht eine Baugruppe macht? Abgesehen von den Planern und Errichtern der gebauten Umgebung steuert dies die jeweilige Baurechtsverwaltung mittels Bebauungs- und Flächenwidmungsplänen sowie gemeindespezifischen Vorschriften. Inwiefern ein soziales Miteinander in einem Quartier ermöglicht wird oder nicht, hängt übrigens zum Großteil von den Eigenschaften der Erdgeschoßzone ab: Gehsteigbreiten, Durchlässigkeit, KFZ-Stellplätze, Müllsammelräume, Raumhöhen sind nur einige der Aspekte, die in diesem Punkt zu tragen kommen und darüber entscheiden, ob sich soziales Leben besser oder schlechter entfalten kann. 
Die Verantwortung kann auf keinen Fall vom einen auf den anderen Akteur abgeschoben werden. In der Praxis passiert es dennoch manchmal, dass unverschuldet der schwarze Peter bei einem der beiden Akteure landet: Im sozialen Wohnbau wird bei wachsender Stigmatisierung einer Wohnsiedlung – das bedeutet zunehmender Vandalismus, steigende Kriminalität, Konzentration arbeits- beziehungsweise perspektivlose Bewohner – die Architekten dafür verantwortlich gemacht, dass die Wohnsiedlung „kippt“. Dass die Gründe für diese Entwicklung aber nicht an der Planung, sondern an der fehlenden sozialen Durchmischung, der Wohnungsbelegung und der Hausverwaltung liegt, erschließt sich vielen offenbar nicht. Es liegt allein in der Verantwortung unserer VOGEWOSI’s (Stichwort Achsiedlung), der GWG’s (Stichwort Linz Auwiesen) oder dem Wiener Wohnen (Stichwort Am Schöpfwerk), welche Entwicklung ein Quartier nimmt. 
Zurück zum öffentlichen Raum und wenn der Aufenthalt darin unterbunden wird … Haben Sie schon bemerkt, wie sich die Wahrnehmung ändert, sobald die Menschen aus dem öffentlichen Raum verschwinden? „Es ist so still, zu still. Ich wünsche mir, dass es so still nicht lange bleibt“, schildert Doris Knecht in einer Kolumne die Fremdheit beziehungsweise die Abwesenheit des alltäglichen Soundtracks. 
Der Wiener Stadtforscher Peter Payer beschreibt die aktuelle Stimmung als „ein Gefäß, das geleert wurde“ und stellt Par­allelen zum Zweiten Weltkrieg her, als Luftschutzbunker und Verdunkelung angeordnet waren. „Durch den Mangel an Ablenkung […] konzentrieren wir uns plötzlich mehr auf unsere Sinne. Wir spüren den Untergrund, auf dem wir gehen, wir sehen die Schönheit der Gebäude und nicht nur jene der Schaufenster, wir erleben den öffentlichen Stadtraum in seiner vollen Bandbreite.“ 
Welche unangenehmen Folgen das Ausfallen der nächtliche Straßenbeleuchtung mit sich bringt, erlebten die Bregenzer während eines abendlichen Zwischenfalls im Vorklöstner Umspannwerk vor knapp zehn Jahren: Das subjektive Sicherheitsgefühl, sich frei und unbeschwert im öffentlichen Raum bewegen zu können, war mit einem Schlag abhandengekommen! 
In diesen Zeiten der Ausgangsbeschränkungen erfahren wir unmittelbar am eigenen Körper die Notwendigkeit des Aufenthalts in der freien Natur. Nicht nur, dass in städtischen Ballungsräumen die Naherholungsgebiete überrannt werden, auch unsere diversen Ersatzwelten in der digitalen Matrix können diese Grundbedürfnisse auch nur annähernd abdecken. Wie eingangs erwähnt, kann hier unsere Gattung ihre ursprüngliche Herkunft nicht leugnen. 
Wie lange diese Ausgangsbeschränkungen noch andauern werden, bleibt nach wie vor ungewiss. Es bleibt zu hoffen, dass die handelnden Personen und verantwortlichen Institutionen aus dieser Episode mit geschärften Sinnen herausgehen mögen und der öffentliche Raum und was ihn im Besonderen ausmacht wieder ein Stück mehr ins Bewusstsein tritt.

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