Gerold Strehle

geboren 1974 in Linz, Architekt, Gründer des Büros für Architektur und Umweltgestaltung in Bregenz und Wien

© Foto: Angela Lamprecht

Das grosse Baggern – Städtebauliche Projekte rund um den Bodensee

September 2020

Kennen Sie Lindau? Unternehmen Sie noch rasch einen Ausflug zu unserer Nachbarstadt am Bodensee: In den nächsten zehn Jahren wird das Ihnen bekannte Lindau komplett umgestaltet: Fünf Hektar ehemalige Gleisflächen werden rund um den Kopfbahnhof zur städtebaulichen Entwicklung freigegeben. Die Gleisanlagen werden verkürzt, an deren Stelle tritt ein städtischer Platz flankiert vom denkmalgeschützten Teil des Bahnhofsgebäudes. Die angrenzenden unverbauten Lücken und der Parkplatz der hinteren Insel werden rund um die bestehende Struktur geschlossen. Zwölf Hektar werden im Stadtteil Reutin zur städtebaulichen Entwicklung durch den Rückbau des Frachtenbahnhofs frei. Hier wird der zukünftige Fernreiseverkehr Lindaus abgewickelt, auf die Lindauer Insel gelangen Sie zukünftig mit einem Shuttleboot.

Die gesamte Stadtentwicklung Lindaus beinhaltet ein engagiertes Planungs- und Bauprogramm und setzt auf Best-Practice Modelle des aktuellen Städtebaus: Einbindung und Mitbestimmung der Bevölkerung in der Konzept- und Planungsphase, kooperative Verfahren bei der Vergabe der einzelnen Baufelder, partizipativer Wohnbau, Co-working- und Co-living-Konzepte und so weiter und sofort … Wir werden bis 2030 sehen, ob diese ehrgeizigen Absichten auch tatsächlich in dieser Form umgesetzt werden.

Die Veranlassung dieses Riesenprojekts war durch mehrere Problemstellungen veranlasst: Aus Sicht der Bahninfrastruktur sind zukünftige Anforderungen an den öffentlichen Verkehr nur mit einer Zwei-Bahnhofslösung zu bewerkstelligen, die Insel litt in den vergangenen Jahrzehnten unter akutem Einwohnerschwund. Aufgrund der zunehmenden Nutzung der Wohnungen als Zweitwohnungen verliert die Lindauer Insel seine Zentrumsfunktion. Die vorhandenen Wohnungsgrößen und die Mietpreise sind nicht geeignet, junge Familien in der Stadt zu halten.
Ein ähnliches Großprojekt vollzieht sich derzeit auch am gegenüberliegenden Schweizer Ufer des Bodensees: In Arbon wurde das Werksgelände der Firma Saurer von der Stadtgemeinde ausgelöst und ein gemischtes Quartier für über tausend Einwohner von der größten Schweizer Immobiliengesellschaft HRS unter den Auflagen der Stadtgemeinde entwickelt. Freifinanzierte und Genossenschaftswohnungen, Gewerbe- und Dienstleistungsflächen in unmittelbarer Nähe zur Altstadt, zum Bahnhof und dem See lassen dort auf konventionelle Art ein lebenswertes Quartier mitten in der gewachsenen Stadt entstehen. Nachdem sich HRS nach erfolgter Fertigstellung der Objekte verpflichtet hat, diese an die Sankt Galler Pensionskasse zu veräußern, sind somit auch langfristig die Interessen der kantonalen Gemeinschaft gesichert. Diese Form der „aktiven“ Bodenpolitik – so wie es auch zahlreiche Vorarlberger Gemeinden praktizieren – hat sich nicht nur für Lindau, sondern auch für Arbon offenbar gelohnt.

Projekte dieser Größenordnung gab und gibt es auch auf der Vorarlberger Seite: Ich erinnere an die Rüsch Werke in Dornbirn – seinerzeit die bedeutendste Turbinenbaufirma Mitteleuropas – oder das Industrieareal von FM Hämmerle in Dornbirn Steinebach sowie viele andere Industriestandorte, welche in Folge des wirtschaftlichen Strukturwandels umgenutzt werden mussten.
Nachdem das derzeit größte städtebauliche Projekt in Bregenz – Seestadt und Seequartier – derzeit auf Stand-By steht, fällt unser Blick nach Wolfurt Rickenbach: Hier wird gegenwärtig ein rund dreißig Hektar großes Quartier rund um die ehemaligen Industriehallen und Verwaltungsgebäude der Firma Doppelmayr schrittweise bis 2040 entwickelt und einer gemischt genutzten Verbauung zugeführt: Fußläufige Verbindungen, die Erhaltung der historischen Gebäude und eine funktionale Durchmischung sind auch hier die Leitpflöcke für den städtebaulichen Rahmenplan.
Abseits der Betrachtung einzelner Projekte möchte ich vielmehr den Blick auf die neu geschaffene Gesetzesgrundlage unseres Landes richten: Vor knapp mehr als einem Jahr wurde das Raumplanungsgesetz novelliert und darin die sogenannte „Verdichtungszone“ geschaffen. Diese privilegierte Widmungsform lässt eine höhere Ausnutzung der Grundstücksfläche zu und untersagt beispielsweise die Errichtung eines eingeschoßigen Supermarkts in Zentrumsnähe. Diese Regelung zielt auf eine dichtere Bebauung ab mit der Folge, dass diese Quartiere aufgrund ihrer vielfältigen räumlichen und funktionalen Angebote attraktiver gestaltet werden können. Diese privilegierte Widmung verfällt nach Ablauf einer zehnjährigen Frist, und das Grundstück muss der Gemeinde zum Kauf angeboten werden. 

Auch wenn derzeit das raumplanerische Instrument der Verdichtungszone in Vorarlberg bisher noch nicht umgesetzt wurde, so kann es im Einzelfall für die Gemeinden von Vorteil sein, eine privilegierte Widmung nach Ablauf der zehn Jahre wieder entziehen zu können. Nur eine starke öffentliche Hand kann im Einzelfall ausufernde private Interessen von Eigentümern oder Projektentwicklern in die Grenzen weisen. 
„Du wirst keinen treffen, der sich in St. Anton gegen den Umbau zur Ski-WM stellt!“ – Zitat Dipl.-Ing. Rainer, Bauamtsleiter von St. Anton am Arlberg. Als 2001 die Schiweltmeisterschaften im Tiroler Wintersportort durchgeführt wurden, waren in den drei Jahren zuvor die Westbahnstrecke an die südliche Talseite verlegt, die Bundesstraße und das Flussbett der Rosanna parallel dazu verlegt worden. Die Talstationen der Rendl- und der Galzigbahn sind seither fußläufig aus dem Dorfzentrum erreichbar, der Dorfkern verkehrsberuhigt. Auf den Freiflächen der ehemaligen Gleisanlagen stehen nun das Hallenbad, ein Kongresszentrum sowie großzügige Parkanlagen zur Verfügung. 
Die Gründe für großmaßstäbliche Umbaumaßnahmen können oftmals sehr unterschiedlich sein: eine dynamische Bevölkerungsentwicklung, verkehrstechnische oder infrastrukturelle Anpassungen, wirtschaftliche Krisen oder Veränderungen in Besitzverhältnissen und vieles mehr. Wichtig in diesen Fällen ist eine öffentliche Hand, die mit den richtigen Steuerungsmitteln und der erforderlichen Weitsicht ausgestattet ist.

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