Heinz Peter

Publizist und Philosoph © Foto: Norbert Ellensohn

Demokratie in Gefahr

Februar 2021

Die Demokratie hatte nicht immer den besten Ruf. Für Platon bereitet die freiheitliche Demokratie den Boden für die grausamste Knechtschaft unter einem extremen Despoten und für Aristoteles ist die Demokratie eine Verfallsform politischer Herrschaft, instabil und korrupt, an die niederen Instinkte appellierend und dem Volk nach dem Mund redend. Für Kant besteht das Volk aus einer guten Menge, die auf Abstammung beruht und eine Nation begründet, und dem Pöbel, der nicht die Qualität eines Staatsbürgers hat. Für Sartre sind demokratische Wahlen eine Idiotenfalle, und für Churchill ist die Demokratie die schlechteste aller Regierungsformen – mit Ausnahme aller anderen. 
Ihre Zeit kam mit der Aufklärung. Ludwig XIV konnte noch sagen: „Der Staat bin ich.“ Baron de Montesquieu, ein Vorreiter der Aufklärung (1695-1755), sieht dagegen im Volk die Substanz des Staates. Dabei soll eine Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Rechtsprechung eine Machtkonzentration an der Spitze des Staates verhindern.
Es muss eine parlamentarische Opposition geben, und Grund- und Freiheitsrechte sollen Rechte des Einzelnen und von Gruppen absichern. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass „das Maß der Entwicklung aller Staatsbürger die Bedingung und das Maß der Entwicklung des Staates selber ist.“ (Lorenz v. Stein).
Die praktische Umsetzung dieser Vorstellungen brauchte Zeit. Die Französische Revolution gab Hoffnung, die nachfolgende Restauration zerstörte sie. Nach dem Ersten Weltkrieg war für einige Monarchien die Zeit abgelaufen. Die Weimarer und die Erste Österreichische Republik endeten im Faschismus. In Russland hatte sich der Kommunismus etabliert. Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg führte im Westen zu einer Hochblüte der Demokratie: Wiederaufbau mit hohen wirtschaftlichen Wachstumsraten, Ausbau eines Sozialstaates, Eröffnung neuer Bildungschancen, und der Einzug der Moderne im kulturellen, künstlerischen und intellektuellen Milieu schaffte gute Voraussetzungen für die Akzeptanz einer demokratischen Gesellschaft. Die neuen Freiräume wurden genutzt: Das Individuum konnte sich aus dem Motivzwang der Umgebung lösen und die für sein Leben wichtigen Wertestrukturen selber bestimmen.
Heute können Globalisierung, Automatisierung, Digitalisierung und Flüchtlingsströme Ängste vor Arbeitsplatzverlusten und sozialem Abstieg hervorrufen, ebenso wie Pandemien und der Klimawandel. So haben sich die Hoffnungen Polens und Ungarns, mit dem EU-Beitritt das Wohlstandsniveau Westeuropas bald zu erreichen, nicht erfüllt. Mit der Globalisierung und den Migrationsströmen konfrontiert, entscheidet sich Orban nun für eine illiberale Demokratie.
Der vergangene US-amerikanische Wahlkampf hat gezeigt, dass die USA ein tief gespaltenes Land sind. Die einen leben im Trump’schen Medien-Silo, orientieren sich an Fox News und Breitbart. Die anderen lesen die New York Times, die Washington Post und sehen und hören CNN. Diese Spaltung gab Trump die Möglichkeit, die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge, Fakt und Fake, abzuschaffen. Trump sprach davon, dass noch nie so viele Menschen an der Amtseinführung eines Präsidenten teilgenommen hätten. Archivbilder bewiesen das Gegenteil: Bei der Amtseinführung Obamas war die Anzahl der teilnehmenden Menschen beträchtlich höher. Auf diesen dokumentierten Widerspruch angesprochen, erklärte Kellyanne Conway, Beraterin Präsident Trumps, die Aussage des Präsidenten beinhalte alternative Fakten. In den sozialen Medien präsentierte Trump seine Sicht der Dinge, machte sich zum Verwalter seiner Wahrheit und degradierte die sozialen Netzwerke zu regulierenden, zensurierenden und manipulierenden Einrichtungen.
So verstärkte sich die Spaltung immer mehr auf Kosten einer gemeinsamen Perspektive. Nur wenn sich Meinungen decken, kann es eine gemeinsame Sicht der Dinge geben. Wenn diese gemeinsame Sicht dann noch empirisch abgesichert ist, können wir von Tatsachen sprechen, die solange als Fakten gelten, bis neue empirische Befunde hinzukommen. Ohne gemeinsam anerkannte Tatsachen ist eine politische Debatte unmöglich. Eine gespaltene Gesellschaft ist immun gegen die Argumente der anderen Seite, und so leben Demokraten und Republikaner in ihren eigenen Welten, unfähig für eine kritische Reflexion und zu einer konstruktiven politischen Debatte. 
In einem solchen Fall entscheiden dann die Anzahl der Followers und die herrschende Medienmacht, was am Ende als „Wahrheit“ dargestellt wird. Für Steve Bannon, den ehemaligen Polit-Berater Präsident Trumps, sind die Medien eine Gegenpartei, die das Land nicht verstehen. Am 17. Februar 2017 erhob Trump in der New York Times die Medien zum Feind des amerikanischen Volkes. Die von der Washington Post aufgezeigten Lügen Trumps erklären seine Mitstreiter zu alternativen Fakten.
In einer solchen polarisierten Gesellschaft werden politische Gegner zu Feinden, der politische Wettstreit wird zum Krieg, wobei versucht wird, das Rechtssystem als Waffe einzusetzen. Das vorläufige Ende einer solchen Entwicklung zeigte sich in der Nacht vom 6. auf den 7. Jänner 2021, als ein Sturm auf das Kapitol in Washington das demokratische System in den USA zutiefst erschütterte und dessen fragilen Charakter offenbarte. 
Auf der russischen Seite ist es Wladislaw Surkow, der als einflussreicher Berater Putins eine „gelenkte Demokratie“ propagiert und Putin damit zum Herrscher über die Realität macht. Surkow lehnt die Existenz einer objektiven Wahrheit ab. Die westlichen Vorstellungen von Wahrheit und Transparenz seien naiv und undifferenziert. 
Wenn wir nicht wollen, dass unsere demokratischen Prozesse ausgehebelt werden, müssen wir die Mechanismen zur Aushöhlung der Demokratie öffentlich machen und sie breit diskutieren. Gleichzeitig sind wir aufgerufen, aufgrund von Tatsachen nach Gemeinsamkeiten zu suchen und gegnerische Meinungen nicht als feindselige Aggressionen zu interpretieren. Daher bleibt die Suche nach einem akzeptablen politischen Kompromiss mühsam, aufwändig und gleichzeitig unverzichtbar.

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