Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Die Flüchtlingswelle und die Folgen

Oktober 2015

Eine gigantische Flüchtlingswelle aus dem Nahen Osten und aus Afrika überrollt Europa. Hunderttausende von den Schrecken der Kriege Vertriebene, an der Zukunft ihrer Länder Verzweifelte und vom Wohlstand Europas Verlockte fliehen und nehmen einen entbehrungsreichen und gefährlichen Weg nach Europa auf sich. Die Dynamik dieser Völkerwanderung wurde bis zuletzt weit unterschätzt. Zuerst ging es um Schiffbrüchige auf der Überfahrt von Nordafrika. Nach einigem Zögern entsandte Europa Kriegsschiffe – für einige Tausend zu spät. Als ein Teil derer, die Lampedusa lebend erreicht hatten, mit der Bahn nach Deutschland wollte, holte sie die Polizei am Brenner aus dem Intercity und schickte sie nach Italien zurück. Die Solidarität der Partner in der Europäischen Union beschränkt sich bis heute auf feierliche Erklärungen.

Von der drohenden kriegerischen Eskalation in der Ukraine und von der Finanz- und Staatskrise Griechenlands völlig in Anspruch genommen, übersah die europäische Politik die entstehende Völkerwanderung in der Ägäis. Hoffnungslosigkeit in gescheiterten Staaten wie Syrien, Irak oder Afghanistan und die Aussicht auf ein Leben im Flüchtlingslager erreichten einen Grad, der in kürzester Zeit Hunderttausende in Bewegung setzte. Ihr Ziel: Mittel- und Nordeuropa. Vor allem der Mythos „Germany“ erscheint als gelobtes Land.

Was sich auf dem Marsch durch Griechenland auf der Balkanroute abspielt, wie Österreich und Deutschland reagierten, wird politische Analysen noch lange beschäftigen. Keine der Regierungen oder europäischen Institutionen waren auf diesen Fall vorbereitet oder koordiniert; am wenigsten verfügen sie über Vorstellungen, wie es nun weitergehen könnte. Was wäre, wenn sich nicht „nur“ Hunderttausende, sondern Millionen aus dem Nahen Osten und aus dem Sahel nach Europa aufmachen? Dem würden wohl eilig errichtete Stacheldrahtzäune auf die Dauer nicht standhalten. Es ist bitter, zusehen zu müssen, dass Ungarn, das Land, das im historischen Jahr 1989 den Eisernen Vorhang zerschnitten hat, nun einen solchen an seiner Südgrenze gebaut hat.

Sicher haben sich Leserinnen und Leser aus Vorarlberg persönlich ein Bild machen können, was sich an den kritischen September-Tagen auf den Bahnhöfen von Wien, Salzburg und München abspielte: auf den ersten Blick deprimierendes Chaos und schreckliches Elend, vor allem bei Familien mit Kindern; zunächst unzulängliche Improvisation und akute Gefahren für die Sicherheit. Allmählich bekamen aber die Kräfte von Polizei, Bahn und Heer das Chaos besser in den Griff, bemerkenswert menschenfreundlich. Immer mehr Notquartiere, Versorgung und ärztliche Betreuung konnten angeboten werden. Die zivilen Helfer vom Roten Kreuz, von Caritas und Diakonie und eine ungeahnte Welle der privaten Hilfsbereitschaft drängen – Gott sei Dank! – das peinliche Lavieren der Politik und die empörende europäische Uneinigkeit etwas in den Hintergrund.

Österreich hat im vorigen Jahrhundert mehrmals Erfahrungen mit Massenflucht gemacht: bei der Vertreibung der Volksdeutschen zu Kriegsende, bei der Flucht vor den Sowjet­panzern nach den Volksaufständen von Budapest (1956) und Prag (1968) und in den Neunzigerjahren während der Nachfolgekriege in Ex-Jugoslawien. Und dazu verfügen wir über Erfahrungen mit der schwierigen, aber friedlichen Integration von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen als Folge des Zuzugs von Gastarbeitern.

Der Exodus aus dem Nahen Osten ist für Europa die größte Völkerwanderung seit dem Weltkrieg. Zweifellos werden nicht nur ihr Ausmaß, sondern auch ihre langfristigen Konsequenzen einen Einschnitt in der europäischen Geschichte darstellen. Für Österreich unterscheidet sich die aktuelle Massenflucht von den historischen Erfahrungen: Der Großteil der hunderttausenden Asylsuchenden möchte so schnell wie möglich weiter nach Deutschland. Die Zahl jener, die in Österreich Asyl und Aufenthaltsrecht suchen, wird wohl unter 100.000 bleiben. Nicht überwältigend viel: ein Prozent der Bevölkerung. Sicher nicht wenig, gemessen an der statistischen Arbeitslosigkeit von rund 400.000 und der wenig günstigen Wirtschaftslage. Keine geringe Belastung für den Staatshaushalt. Aber auch nur Bruchteile des Aufwands für die Bankenkrisen.

Je mehr die unmittelbare mitmenschliche Hilfeleistung an Dramatik verliert, desto mehr keimen Sorgen über die längerfristigen Konsequenzen. Werden sie die Lebensweise unserer Gesellschaft, unsere Staatsfinanzen, unser Sozialsystem überlasten, die Krise, in die Europa und Österreich geraten sind, noch verschärfen?

Sicher, wenn wir darauf nicht weitblickend reagieren. Sicher, wenn wir nur den unmittelbaren Mehraufwand betrachten. Es ist notwendig, die Aufnahme von Flüchtlingen auch als längerfristiges Potenzial aufzufassen. Immerhin sorgen wir uns seit Jahren über die Folgen einer demografisch rückläufigen Erwerbsbevölkerung und über den Fachkräftemangel. Deutschland musste bisher mit einer rasch schrumpfenden Gesamtbevölkerung rechnen. In den ostdeutschen Bundesländern hatte man begonnen, ganze Städte wegen Entvölkerung „zurückzubauen“. Deutschlands Immigrationskapazität wird die Zukunft Europas prägen. Deutschland wird 2015 rund eine Million Asylsuchende aufzunehmen haben. Aber: Die Vereinigten Staaten gestatten seit 2000 jährlich rund eine Million zusätzliche legale Daueraufenthalte. Da müsste die EU in der Lage sein, eineinhalb Millionen im Jahr ohne Katastrophe zu bewältigen.

Fachkräftemangel bremst auch die österreichische Wirtschaft, jedenfalls in florierenden Regionen wie Vorarlberg. Die meisten Flüchtlinge sind nicht unmittelbar in der Wirtschaft einsetzbar. Aber sie sind im Durchschnitt jünger als die Einheimischen, relativ viele stammen aus besser gebildeten und motivierten Schichten ihrer Heimat: Fachingenieure, Computerleute, Krankenschwestern, Lehrer und Ärzte befinden sich darunter. Außerdem hat unsere alternde Gesellschaft rasch wachsenden, längst nicht gesättigten Bedarf an häuslichen und persönlichen Dienstleistungen. Es wäre ohnehin hoch an der Zeit, die rasch zunehmende Nachfrage nicht wie bisher de facto in die Illegalität zu drängen.

Die historische Massenflucht wird dann zu einem langfristigen Problem, wenn wir uns scheuen, den notwendigen Aufwand für die Integration dieser neuen Bevölkerungsschicht aufzubringen, wenn wir die Veränderung gewohnter Vorstellungen nicht wahrhaben wollen und wenn wir langfristige Orientierungen Monate lang hin und her schieben. Das würde uns wirklich teuer zu stehen kommen, nicht nur in Bezug auf öffentliche Finanzen, sondern auch auf entgangene Chancen.

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