Raphaela Stefandl

Zehn Jahre lang Schweiz-Korrespondentin des ORF, seit Oktober 2021 freie Journalistin und Medientrainerin, langjährige Moderatorin und Sendungsverantwortliche von „Vorarlberg-Heute“, Redakteurin mit Schwerpunkt politische Berichterstattung. Foto: Alexander Roschanek

Die Suche der Schweiz nach einem Ausweg

September 2014

„Stopp der Masseneinwanderung“ : Die Schweiz als Nicht-EU-Mitglied ist wirtschaftlich eng an den Euroraum angebunden, in drei Jahren soll aber die Zuwanderung von Arbeitskräften gestoppt werden. Wie viele dann noch kommen dürfen, ist offen, fix ist, dass künftige Grenzgänger betroffen sein werden. Die EU will aber nicht über die Personenfreizügigkeit verhandeln. Wie weiter? Vieles ist unklar.

Eigentlich ist die Sache doch ganz einfach. Die Schweizer haben sich entschieden, die Zuwanderung selbst zu steuern. Sie wollen sagen, wie viele Menschen aus den europäischen Ländern künftig in die Schweiz zum Arbeiten und Wohnen kommen dürfen. Und ganz klar: Schweizer sollen am Arbeitsmarkt Vorrang haben. Punkt. So steht es nach dem Votum der Bürger in der Verfassung. Die logische Folge wäre: Die Schweiz kündigt den Vertrag über die Personenfreizügigkeit, sagt selbst, wo es langgehen soll. Schließlich ist sie ja auch nicht Mitglied in der EU. So klar, so verworren.

Tatsache ist, dass die Schweiz über viele Verträge eng mit der EU verknüpft ist – zum Beispiel über die Personenfreizügigkeit. Diese darf nicht eingeschränkt werden, sagt die EU, weil sie eine der Errungenschaften im Zusammenleben der mittlerweile 28 Staaten darstellt. Jeder Bürger soll selbst wählen können, wo er leben und arbeiten will. Im Hinterkopf geht wohl die Frage um, ob im Falle einer Ausnahmeregelung für die Schweiz rechtspopulistische Kräfte in anderen Ländern auf die Idee kommen könnten, an diesen Grundsätzen zu rütteln.

Der nächste Punkt: Würde einer der beiden Vertragspartner die Personenfreizügigkeit kündigen, weil sie verletzt wurde, dann fielen damit automatisch sechs weitere Verträge weg, die für die Schweizer Wirtschaft wichtig sind.

Die Regierung, die politische Mitte und Linke, Gewerkschaften und Wirtschaft haben eben dieses Szenario vor der Abstimmung an die Wand gemalt. Doch die SVP, die stärkste Partei in der Schweiz, konnte die Bürger auf ihre Seite bringen. Sie spielte ihre bislang oft erfolgreichen Parolen neu durch: Angst vor Überfremdung und Arbeitslosigkeit und zu wenig Platz in der Schweiz. Die Argumente fielen auf fruchtbaren Boden; tatsächlich wandern jährlich bis zu 80.000 Europäer in die Schweiz ein, so viele, wie eine mittlere Stadt Einwohner hat. Der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung beträgt 24 Prozent. Wohnen ist teuer geworden, Eigentum selbst für mittlere Einkommen in der Stadt kaum leistbar.

„Die Schweizer Wirtschaft ist eigentlich zu groß für das Land“, sagt der Europarechtsexperte Professor Dr. Andreas Kellerhals vom Europa-Institut der Universität Zürich. „Wir leben vom Binnenmarkt, die Zuwanderung hat die Nachfrage im Land derart gesteigert, dass wir super davon leben, auch wenn der Franken-Kurs hoch ist und Produkte für Ausländer teuer sind. Wir sägen uns mit der Beschränkung der Zuwanderung den Ast ab, auf dem wir sitzen.“

Tatsächlich ist die Debatte rund um die Einwanderung eine Diskussion über Wirtschaftswachstum insgesamt geworden. Wollen wir wachsen oder nicht?
Die Regierung muss umsetzen, was sie nicht gewollt hat. Doch was ist noch zu verhandeln, wenn die EU die Personenfreizügigkeitsvereinbarung nicht verhandeln will?

Schwierige Ausgangslage

Zwei Szenarien sind denkbar: Setzt die Schweiz die Verfassungsbestimmung wortgetreu um, fallen auch die anderen Verträge. Dann wären die Eidgenossen wohl isoliert. Das mag sich so recht keiner ausmalen. Viel eher dürfte die offizielle Schweiz versuchen, ein bilaterales Paket zu schnüren, Anliegen hineinzupacken, die die EU von der Schweiz haben möchte, mit neuen Vertragsbestimmungen rund um den Marktzugang. Und sie sucht nach Auswegen, um die Personenfreizügigkeitsregelung zu umschiffen. Ob und wie das gelingen mag, steht heute noch in den Sternen. In jedem Fall, erwarten Schweizer Analysten, wird das Volk über das Thema noch einmal abstimmen müssen. Sollte der Entscheid dann gegen die Verträge mit der EU ausgehen, dann würde es wirklich schwierig. Das Szenario lässt sich derzeit kaum ausmalen. „Mit Wasser und Brot überlebt man lange“, wird das SVP-Urgestein Christoph Blocher, der Vater der Ideen der Masseneinwanderungsinitiative, zitiert. Und er droht der Regierung, falls sie den Verfassungsartikel nicht so umsetzen sollte, wie es vom Volk bestimmt wurde. Das Thema wird am Köcheln bleiben, das ist sicher. Denn in einem Jahr wird in der Schweiz der Nationalrat neu gewählt. Der Wahlkampf ist seit dem 9. Februar bereits eröffnet.

Auch die Randregionen zittern mit. Aus Vorarlberg passieren täglich rund  8000 Grenzgänger die Brücken über den Rhein. Sie fahren zur Arbeit in Ostschweizer Betriebe. Und beide Seiten profitieren von dieser Situation.

Die Schweiz war immer eigenständig. Schon im Mittelalter wehrten sich die Bauern gegen die Landvögte, gegen die Gehilfen jener Habsburger Herren, die eingewandert waren, um im Großraum Aargau bis Basel die Herrschaft zu übernehmen. Die Habsburger erlitten im Juli 1386 eine denkwürdige Niederlage in der Schlacht von Sempach; Leopold III. kam ums Leben, während auf Seiten der Eidgenossen bis heute im Geschichtsunterricht von den sagenhaften Heldentaten ihrer Ahnen berichtet wird. Die politisch und territorial sehr einflussreiche Herrschaft der Habsburger hinterließ manches, was heute von den Schweizern sehr geschätzt wird: kulturelles Erbe. Burganlagen, Schlösser, Klosterkomplexe, mittelalterlich befestigte Städte – alles zusammen ein großer Anziehungspunkt für Kulturtouristen, man wirbt mit der gemeinsamen Vergangenheit. Vielleicht ist das ein Anhaltspunkt für die Zukunft.

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