
„Diese Galanterie heißen sie fuegen“
Dezember 2025
Ein Reiseschriftsteller berichtet 1729 über seltsame Gewohnheiten der Bregenzerwälder Bauern in „Aussuchung ihrer Weiber“.
Johann Georg Keyßler (1693-1743) war einer der bedeutendsten Reiseschriftsteller des 18. Jahrhunderts.1740/41 veröffentlichte er unter dem Titel „Neueste Reisen durch Teutschland, Böhmen, Ungarn, die Schweiz, Italien, und Lothringen“ Reiseberichte, die das Bild dieser Länder in der europäischen Öffentlichkeit nachhaltig prägten. Seine zwei Bände umfassenden Reisebeschreibungen erlebten in 35 Jahren drei Auflagen und wurden in mehrere Sprachen übersetzt.
Die Autoren vieler Reisebeschreibungen der Frühaufklärung waren bürgerliche Hofmeister, die adelige Zöglinge, die ihrer Erziehung und Ausbildung anvertraut waren, auf Bildungsreisen ins Ausland begleiteten. Hofmeister fungierten bei derartigen Reisen als Reiseleiter, Privatlehrer, Erzieher und Berater in einem. Sie hatten ihre Zöglinge in Sachfächern zu unterrichten, mussten ihnen aber auch standesgemäße Umgangsformen beibringen und sie mit den gesellschaftlichen Usancen des Adels vertraut machen.
Johann Georg Keyßler war Hofmeister bei der adeligen Familie von Bernstorff, die Besitzungen im Raum Mecklenburg und Lüneburg und später auch in Dänemark hatte. Andreas Gottlieb von Bernstorff (d.Ä.), der zeitweilig Premierminister des Kurfürstentums Hannover und später Leiter der deutschen Kanzlei in London war, hatte Keyßler zum Erzieher seiner beiden Enkel Andreas Gottlieb (d.J.) und Johann Hartwig Ernst von Bernstorff bestellt. Keyßler war überaus gebildet, belesen, fremdsprachenkundig und galt Zeitgenossen als „Polyhistor“ und „Gelehrter europäischen Zuschnitts“. Er gilt als Mitbegründer der germanischen Altertumskunde und Pionier der Erforschung der germanischen Frühzeit.
Nach dem Familienstatut der Familie Bernstorff, das auch die Ausbildung der Johann Georg Keyßler anvertrauten Zöglinge regelte, sollte die häusliche Erziehung mit dem zwölften Lebensjahr beendet werden. Ab diesem Zeitpunkt war eine Bildungsreise mit Universitätsbesuch vorgesehen. Gemäß diesem Statut brach Johann Georg Keyßler mit den beiden Zöglingen und einem Diener nach Tübingen auf, wo die beiden Brüder eineinhalb Jahre an der Universität und der Ritterakademie, dem Collegium illustre, in den staatswissenschaftlichen und historischen Disziplinen unterrichtet wurden.
Im Sommer 1729 begann die gleichfalls im Familienstatut festgelegte Auslandsreise. Das literarische Zeugnis dieser Reise sind die zwei Bände der von Keyßler verfassten „Neueste(n) Reisen durch Teutschland, Böhmen, Ungarn, die Schweiz, Italien und Lothringen“. Die vier Jahre dauernde Reise führte die Gruppe in die Schweiz, das Reich der Habsburger, nach Italien, Frankreich, England, Holland und in zahlreiche Fürstenhäuser in Deutschland. Über die Stationen dieser Reise berichtete Keyßler regelmäßig seinem Herrn, dem Großvater der ihm anvertrauten jungen Adeligen.
Im Frühsommer 1729 kam Keyßler mit seinen Zöglingen an den Bodensee. Über diesen Abschnitt der Reise berichtete er im Vierten Brief, der die Reise von Schaffhausen über Konstanz nach Lindau beschreibt. Obwohl er nicht in den Bregenzerwald kam, berichtete er am 3. Juni 1729 von Lindau aus seinem Herrn über wunderliche Gewohnheiten der Bauern um den Bregenzer-Wald „in Aussuchung ihrer Weiber“:
„In den Dörfern des benachbarten Bregenzerwaldes hat bisher die wunderliche Gewohnheit regieret, daß die unverheurateten Baurensöhne und -knechte ohne Scheu so lange bei einem ledigen Mägdchen haben schlafen können, bis dieselbe ein Kind von ihnen bekommen, da dann jene erst und zwar bey höchster Strafe verbunden waren, sie zu heurathen. Diese Art von Galanterie heißen sie fuegen, und finden sie daran so wenig auszusetzen, daß, da man seit etlichen Jahren, kraft obrigkeitlichen Amtes, diese schändliche Weise abschaffen wollen, es zu einer Art Aufruhr gediehen, und die Sach noch in einen Prozeß, zu dessen Führung sie einen Advokaten aus Lindau angenommen haben, verwickelt ist. In einer Versammlung, welche die Bauren wegen dieser Sache hielten, stand ein alter Greis auf, und rieth zur Fortsetzung des Prozesses mit dem trefflichen Voto: Mein Großvater hat gefueget, mein Vater hat gefueget, ich habe gefueget, und also will ich, daß mein Sohn und seine Nachkommen auch fuegen sollen.“
Keyßlers Bericht wirft ein Schlaglicht auf das Sexual- und Heiratsverhalten der Bregenzerwälder zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Denn nach seiner Darstellung hat die Zeugung eines Kindes nicht nur sozial, sondern auch rechtlich – „bey höchster Strafe“ – die Pflicht begründet, die Mutter des Kindes zu heiraten. Ob dies tatsächlich so gehandhabt wurde, müsste gesondert geprüft werden. Keyßler muss aber die ihm zur Kenntnis gelangten Gewohnheiten der Bregenzerwälder Bauern und ihren Widerstand gegen obrigkeitliche Anordnungen, die diese ändern wollten, für so bemerkenswert gehalten haben, dass er seinem Herrn darüber berichtete.
In der Etymologie des Wortes „fügen“ kommt in vielfältigen Abwandlungen der Gedanke des Zusammenpassens und Verbindens vor, was auch auf die Verbindung von Menschen bezogen wurde. Beim Dornbirner Mundartdichter Armin Diem findet sich beispielsweise die Formulierung „i füog zöu dor (dir)“, was nichts anderes heißen soll als: „Ich pass zu dir.“
Keyßlers Bemerkung über das „Fügen“ wurde auch in alte Wörterbücher aufgenommen. Im Schwäbischen Wörterbuch von Johann Christoph von Schmid (1831) und im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm (1878) wird sie als „Probenächte halten“ interpretiert. Ob dies auch von den Bregenzerwäldern so gemeint war, mag dahingestellt bleiben. Das daraus entstandene Kind aber haben sie nach Keyßlers Bericht als „Fügung“ verstanden, die zum dauernden Beisammenbleiben verpflichtet.









Kommentare