Gerald A. Matt

Kunstmanager, Publizist und Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien

Futuristisches in eisiger Kälte

November 2018

Das Hotel Ješteˇd liegt imposant auf dem 1000 Meter hohen gleichnamigen Berg oberhalb der Stadt Liberec, ehemals Reichenberg im Dreiländereck Tschechien, Polen und Deutschland. Gerald Matt stattete dem avantgardistischen Monument, das zum Weltkulturerbe erklärt wurde, einen Besuch ab – und verliebte sich in dessen imposante Architektur und futuristisches Interieur, das eine hervorragende Kulisse für einen James-Bond-Film der 1960er-Jahre abgeben könnte. Eine Reiseempfehlung.

Das weit hinaus in den Tälern und Ebenen rund um Liberec sichtbare Hotel Ještěd ist eigentlich ein Fernsehturm. Die Form des Bauwerks fügt sich in die Silhouette des Berges und wird von Weitem als natürliche Einheit mit dem Berg wahrgenommen. Über einem 30 Meter hohen steifen Betonkern von 13 Meter Durchmesser verjüngt sich das Bauwerk zu einer Höhe von 41 Meter auf fünf Meter im Durchmesser. Daraus ragt ein Stahlrohr zu einer Höhe von 100 Meter auf. Das Bauwerk erinnert von außen an eine gestrandete Mondrakete, die wieder zum Abschuss gebracht werden möchte. Das metallene, silbern glänzende, Licht und Schatten spiegelnde Konstrukt ist ein technologisches Wunderwerk, zur Bauzeit eine Vision einer vorweggenommenen Zukunft, die bis heute von der Gegenwart nicht eingeholt wurde. Die äußere Gestalt wird von einem parabolisch geschwungenen Kegel dominiert, dessen Gerippe von außen mit Aluminium verkleidet ist. Der Antennenmast ist für die Durchlässigkeit der Antennensender aus Kunststoff verkleidet. Der Turm wird von drei Ringplattformen unterteilt. Hotel und Fernsehturm benötigen aufgrund ihrer exponierten Lage auf dem hohen Berggipfel wie in anderen Fällen keinen Schaft. Kein Blick von unten kann sich dem stählernen „Monster“ entziehen, wie das Bauwerk von Gegnern während Planung und Bau kritisiert wurde. Wenn unten die Natur des Tales noch von zarten, herbstlich braun-rötlich changierenden Farben dominiert wird, dann regiert meist schon der Winter auf dem Jedek. Starke Windböen und eisige Kälte verwandeln den schneebedeckten Berg und das vereiste Hotel in einen arktischen Vorposten, dessen Fensterflächen von Eiskristallen übersät sind. 

Modernistisch, riesig

Die beeindruckende Fahrt mit dem Wagen von Liberec hinauf zum Hotel wird dadurch zu einer wundersamen Reise vom Herbst in den Winter. Alternativ kann man den Jedek aber auch mit einer Seilbahn oder durch einen beherzten Fußmarsch erreichen. Am Berg angekommen, gelangt der Gast über tunnelartige, vor Wind und Wetter schützende Betonverkleidung in das Innere des Hotels. Und das Haus hält im Inneren, was sein Äußeres verspricht. Es ist durch und durch avantgardistisch, modern von Kopf bis Fuß, die perfekte Kulisse für einen Science-Fiction-Film. Im unteren Teil des Baus befinden sich fünf Geschosse, die ein Hotel, einen Restaurationsbetrieb sowie Betriebsräume für den Sendebetrieb beherbergen. Das Restaurant bietet 300 Sitzplätze; das Hotel hat 14 Zimmer und bietet maximal 56 Gästen Platz. Und Entree, Restaurant und vor allem die Zimmer haben es in sich. Wenn vom Bett aus durch die bullaugenartigen Fenster sieht, glaubt man, sich im Landeanflug eines Düsenjets zu befinden.
Nicht nur, dass James Bond, wohlgemerkt Sean Connery, an der Bar sich bei einem trockenen Martini wohlfühlen würde, es kommen hier einem schon bei der ersten Begegnung Serien aus den 60er-Jahren wie Raumschiff Enterprise, die Jetsons oder Orion in den Sinn. Die um den Kern des Bauwerkes kreisartig angeordneten Zimmer haben den Flair luxuriöser Raumschiffkabinen. Die in den Gängen von den Decken hängenden Plüschsessel schreien nach einer in ihnen sich lasziv räkelnden, während ihrer Reise durch die Galaxis sich nach einem erotischen Abenteuer umsehenden Barbarella, ikonenhaft verkörpert von Jane Fonda. Wenn Roger Vadim das Hotel Jedek gekannt hätte, hätte er wohl seine berühmt gewordene Anfangsszene aus Barbarella, die einen Striptease in scheinbarer Schwerelosigkeit zeigt, in seiner futuristischen Halle gedreht.

Westliche Dekadenz!

Die Geschichte des Hotels beginnt am 31. Januar 1963. Durch heftige Brände wurden der alte Aussichtsturm und eine Unterkunft für Wanderer auf dem Ještěd zerstört. Der Architekt Karel Hubáček erhielt nach einem Wettbewerb den Zuschlag für sein Konzept. Dabei schlug er vor, die Funktionen eines Hotels und Sendeturms in einem Bauwerk zu vereinen. Der Entwurf sollte den harten Winterbedingungen genügen. So entstand die originelle Form eines sich drehenden Hyperboloiden. Im Rahmen der vielfältigen Experimente, die zur Realisierung des technisch überaus schwierigen Projektes notwendig waren, wurden unzählige Prüftests durchgeführt, bei denen an Modellen die ganze Konstruktion in Schwingungen versetzt wurde. Am 30. Juli 1966 erfolgte die Grundsteinlegung. Der Bau des Turms wurde durch die Niederschlagung des Prager Frühlings am 21. August 1968 verzögert.
Auf dem Ještěd wurde ein provisorischer Radiosender eingerichtet, der versuchte, die Bevölkerung zum zivilen Ungehorsam gegen das kommunistische Regime zu mobilisieren, und der bis zum 27. August 1968 unentdeckt blieb. Gegen den halb fertiggestellten Turm formierte sich Widerstand. Der Bau galt den neuen kommunistischen Hardlinern als Ausgeburt westlicher Dekadenz. Den Arbeiten am Bauwerk warf man „kapitalistische Bauweise“ und Verwendung von „westlichen Materialien“ vor. Insbesondere stießen dessen avantgardistische Fassade und individualistische Inneneinrichtung auf Ablehnung der politischen Führung. Mangels Alternativen durch den bereits weitfortgeschrittenen Bauzustand, entschloss man sich dennoch zu dessen Fertigstellung. Architekt Hubáček wurde jedoch aufgrund seiner „architektonischen Exzentrik“ zur persona non grata und von den Eröffnungsfeierlichkeiten am 21.Oktober 1973 ausgeschlossen. 
Auch wenn das Bauwerk von der kommunistischen Nomenklatura gering geschätzt wurde, wurde es schon damals von der internationalen Kritik begeistert aufgenommen und erhielt zahlreiche Preise; 1969 etwa den renommierten Auguste-Perret-Preis. 2000, elf Jahre nach dem Fall des kommunistischen Regimes, wurde das Hotel und der Fernsehturm Jedek zum nationalen Kulturdenkmal und besten tschechischen Bauwerk des 20. Jahrhunderts ernannt. Inzwischen wurde auch um dessen Aufnahme in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes angesucht. Der Besuch des Hotels jedenfalls ist ein unvergessliches Erlebnis.

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.