Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

To leave or not to leave?

April 2019

Ein Engländer, ein Schotte und ein Ire gehen miteinander in eine Bar. Der Engländer wünscht zu gehen. Somit haben alle das Lokal zu verlassen.“ Indem die Untertanen ihrer britischen Majestät über den Brexit unzählige Witze machen, ertragen sie offenbar, gleich ob sie mit „leave“ oder mit „remain“ abgestimmt haben, diese unfassliche politische Katastrophe. Bitterkeit hat unter anderem jene rund eineinhalb Millionen jungen Wahlberechtigten erfasst, die am Referendum im Juni 2016 nicht teilnehmen konnten, weil sie das Wahlalter noch nicht erreicht hatten. Dabei geht es um ihre Zukunft, und nicht um die der seither Gestorbenen. Immerhin hatten zwei Drittel der männlichen und gar vier Fünftel (!) der weiblichen Jugendlichen für „remain“ gestimmt.
Wie immer dieses einmalige Trauerspiel ausgehen wird, bietet es Anlass über zwei Dinge nachzudenken, die auch für uns wichtig sind: über Grundsätze und Institutionen der Demokratie in der heutigen Zeit (und in Zukunft) sowie über Ziele und Formen der europäischen Zusammengehörigkeit. 
Mein Professor im Bregenzer Gymnasium war ein glühender Fan der direkten Demokratie in der benachbarten Schweiz, ganz besonders in jenen Kantonen, die damals noch Landsgemeinden – ohne Beteiligung von Frauen! – abhielten. Er empfahl uns, einmal ein solches Ereignis in Appenzell mitzuerleben. Die Unterstützung für diese aus dem Mittelalter stammende Form von Politik hat über die letzten Jahrzehnte deutlich abgenommen. Kantonale Landsgemeinden werden nur noch in Appenzell Innerrhoden und in Glarus abgehalten. Nachteile einer Demokratie unter freiem Himmel, ohne geheimes Stimmrecht und ohne ausführliche Diskussion vor der Stimmabgabe, wie sie eine repräsentative parlamentarische Demokratie bieten, spielen dabei eine Rolle. Andererseits hat die Schweiz die Qualität ihrer Demokratie durch Volksabstimmungen mit ausführlicher und auch sachlicher schriftlicher Dokumentation der zu entscheidenden Fragen sehr hoch entwickelt. Österreichische Ansätze zur Mitsprache des Volkes bieten im Vergleich dazu einen beschämenden Kontrast. 
Hätte sich Großbritannien an die Praxis der schweizerischen Volksabstimmungen halten können, wäre dort die Verbreitung von so viel Ungereimtheiten, Polemik und auch Lügen unterblieben. Aber auch in der österreichischen Demokratie hätte ein Referendum wie im Vereinigten Königreich über den Austritt aus der EU keine Chance gehabt: Ein „Öxit“ wäre als Gesamtänderung der Verfassung anzusehen und dafür wäre auf jeden Fall eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament erforderlich. Mit der Hürde einer qualifizierten Mehrheit hätte sich „leave“ auch in Großbritannien nicht durchgesetzt. Und so sehr ich persönlich die traditionsreichen britischen Zeremonien im TV mit Vergnügen verfolge, frage ich mich doch, warum die Queen den Politikern nicht – von mir aus sehr vertraulich – Einhalt gebieten konnte mit dem Vorwurf: Du machst mir ja mein Königreich kaputt!
Ein letztes, aber sehr grundsätzliches Problem der demokratischen Praxis betrifft alle modernen, hochentwickelten Staaten: Fragen, die heute regelmäßig zu entscheiden sind, haben in der heutigen Zeit sehr oft nicht nur internationale und globale Konsequenzen, sondern sie betreffen auch immer häufiger Probleme, die sehr komplexe Zusammenhänge aufweisen oder die langfristig nachwirken. Abstimmungen über „Nachhaltigkeit“ – eine Idee, die gerade sehr aktuell ist – können selbst von „Experten“, die um Stellungnahme angerufen werden, oft nicht wissenschaftlich geklärt werden. Leider geben sich manche derart hervorgehobene Professoren dazu her, ihre persönliche Meinung unter dem Deckmantel der Wissenschaft (buchstäblich) zu verkaufen. Andererseits ist die objektive Präsentation wissenschaftlicher Analysen oft sehr schwierig in eine für Nicht-Experten verständliche Sprache oder Logik zu kleiden. 
Eine zweite Facette der schaurigen Tragikomödie des Brexit, die mich persönlich irritiert – einerseits als Vorarlberger, dessen Heimatland im Verlauf seiner Geschichte sehr wesentliche Impulse aus dem heutigen britischen Königreich erhalten hat, andererseits als Angehöriger der Nachkriegsgeneration: 
Anfang des 7. Jahrhunderts ließ sich der irische Mönch Kolumban, aus der französischen Abtei Lisieux kommend, mit einer Reihe irischer Ordensbrüder in Bregenz nieder, um die am Bodensee siedelnden Alemannen gut katholisch zu machen. Später folgte ihm aus der Normandie – ungewiss, ob auch er Ire war oder Normanne – Gallus. Kolumban zog weiter nach Bobbio in der Nähe von Piacenza. Er stammte aus der Stadt Bangor im heutigen Nordirland, mit welcher übrigens heute die Stadt Bregenz eine Städtepartnerschaft pflegt. Ob Kolumbans Heimat von dem Problem des „backstop“ der Grenze zwischen dem Norden und dem übrigen Irland betroffen gewesen wäre, will ich nicht entscheiden. Die geschichtliche Entwicklung bringt ja nicht immer Fortschritt über die Jahrhunderte. Wahrscheinlich wäre zu Kolumbans Zeiten ein Streit über den Backstop einfach absurd gewesen. 
Eine zweite Verbindung zum Königreich, mehr als ein Jahrtausend später: 1837 ließ sich der aus altem schottischen Adel stammende John Douglass in Thüringen im Walgau nieder. Er begründete dort mit seiner „Baumwoll-Spinnerey und Weberey“ die erste industrielle Textilfabrik des späteren Textillandes Vorarlberg. 
Bei der Deutsch-Matura in Bregenz wählte ich das Thema: „Die Bedeutung der europäischen Integration“. Ich fand, dass auf diese Weise die schreckliche Geschichte des Kriegführens in Europa beendet werden könnte. Meine persönlichen Kontakte mit anderen Europäern (bitte das -Innen immer mitzudenken!) zeigten mir, dass uns in Mitteleuropa zwar einige mehr oder minder liebenswerte Eigenheiten von anderen Europäern unterscheiden, jedoch nichts sehr Wesentliches oder gar Abschreckendes. Ich bedauerte daher schon damals, dass sich Österreich als Konsequenz von Staatsvertrag und Neutralität nicht zum Beitritt zur damaligen EWG entschließen konnte; und dass die Schweiz, unser fast immer vorbildlicher Nachbar, drei Jahrzehnte später, als Österreich die volle politische Freiheit gewonnen hatte, nicht mit uns den Beitritt vollzog. Das Dilemma, das dabei entstand, belastet die Schweiz noch immer und ich würde darauf wetten, dass es wieder einmal akut aufbrechen wird. 
Persönlich bin ich sehr skeptisch, ob das Argument „Sicherheit“ die Wiedererrichtung der Grenzabfertigung an den Schengen-Grenzen rechtfertigt. Außer man befestigt die Grenze so wie Herr Orban oder Mister Trump die ihren. Wir hier in Österreich haben uns jedenfalls gefreut, als vor genau 30 Jahren der Österreicher Mock und der Ungar Horn den Eisernen Vorhang zerschnitten und damit das Ende der Diktaturen in Osteuropa auslösten. Die EU muss weder abgeschafft noch verlassen werden. Aber sie ist nicht perfekt. Es ist eine selbstverständliche Aufgabe, sie zu verbessern, damit sie die Zukunft in einer turbulenten Zeit gut besteht.

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