Wolfgang Greber

* 1970 in Bregenz, Jurist, bei der „Presse“ im Ressort Außenpolitik, Sub-Ressort Weltjournal. Er schreibt auch zu den Themen Technolo­gie, Militärwesen, Raumfahrt und Geschichte.

Pfänder, Pipeline, Pandemie: Was mir am Ländle am meisten abgeht

Juli 2021

Mehr als ein Jahr lang schon verwehren Lockdowns und Reisesperren mir, der als gebürtiger Bregenzer in Ostösterreich lebt, den Besuch meiner Heimat. Was fehlt mir seither an V eigentlich besonders? Und was nicht?

Die Zeilen des Gedichts auf der gegenüberliegenden Seite stammen von Inge Dapunt-Morscher. Eine gebürtige Tirolerin, aufgewachsen in Bludenz. Sie schrieb in den 1960ern- und 70ern als Mundartdichterin im dortigen Dialekt. Ich fand den Text vor Jahren im herrlichen Buch „Vorarlberg – ein Kulturprofil“ (1987). Er war schon im „Vor­arlberger Volkskalender 1973“ abgedruckt. 
Lôôz (Laz), Lutafaz und Gampeledianscht sind Weiler bzw. Parzellen oberhalb von Nüziders. Im Gedicht werden sie zu Orten im Herzen. Heimat als Sprachklang: Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht, aber bei dem Gedicht rührt sich etwas warm in meiner Magengrube, im Herz, schnürt sogar leicht den Hals ein. Dabei hab ich als in der Seele Bregenzer, der als Teenager in Rankweil aufwuchs und ins BORG Götzis ging, mit der Bludenzer Gegend mäßig zu tun. Aber speziell die letzten Sätze sind einfach extrem schön. Ich hab ja auch so ein Dreieck im Herzen. Sogar ein Viel­eck. Halt mit anderen Flurnamen. Die heißen etwa Pipeline, Molo, Fluh, Henna­bühel und Pfänderdohle.
Sicher kommt meine Rührung davon, dass ich seit mehr als 20 Jahren nahe Wien lebe, „im Oschta“, das Heimweh leicht rumort, aber die Pandemie den relativ häufigen Ländlebesuchen seit einem Jahr einen Riegel vorgeschoben hat. Eigentlich sind’s eineinhalb Jahre. Im Februar 2020 waren meine Frau, unser Bub (damals 8) und ich eine Woche im Ländle, fuhren Ski, am Bödele etwa und in Damüls/Mellau. Dann kamen die Lockdowns und Reisebeschränkungen. Okay, während der Atempause im Sommer gingen sich zwei Wochen aus, wieder in Eichenberg, auf einem Bauernhof mit göttlichem Blick über den Bodensee, auf die Schweizer Berge, die süddeutschen Hügellande. Später haben die Sperren wieder alles verschissen, sorry, nicht zuletzt die Buchungen für eine Wohnung in Bregenz für Jahreswechsel und Semesterferien.
Wir sind also schon recht lange vom Ländle ausgesperrt. Und von den Freunden dort: dem Unternehmer in Göfis etwa, dem Arzt in Feldkirch, dem Firmenchef aus Klaus, der Immobilienmanagerin in Dornbirn, dem Juristen in Lauterach etc. Man hat telefoniert, gewhatsappt. Doch die Distanz wurde greifbarer. Wie viele Falten, grauen Haare, Kilos sind dazugekommen bei denen? Aber davon abgesehen: Was ist mir in dieser Zeit am Ländle am meisten abgegangen?
Ganz klar: der Bodensee. Eine der schönsten Seenregionen Europas. Ich bin halt ein Seekind, in meinen Adern rinnt noch immer sein Wasser. Ein Herzensort ist die Pipeline. Ja, gibt hübschere Uferabschnitte, aber der raue Charme mit den vorbeirollenden Zügen, Verkehrsgeräuschen und bisweilen halbseidenen Typen hat etwas spezielles, dazu Bier vom Kiosk. Wer sich als Baby dort beim Krabbeln auf dem Beton die Knie aufscheuert, ist für immer mit dem Ort verwachsen. Unser Bub wurde dort im Wasser bald nach dem ersten Geburtstag „getauft“, und seit jenem Sommerabend, als die Sonne wie eine glühende Kupfermünze am roten Himmel hinter Lindau verschwand, ist’s auch für ihn ein Herzensort. Zumal er die Mili entdeckte und von dort stundenlang ins Wasser sprang.
Dass die Pipeline zuletzt durch Massenpartys, Aggressionen und Vermüllung bisweilen nimmer so toll ist, ist net g’hörig. Als Junge haben wir dort auch tüchtig gefestet und Unzucht getrieben. Aber wir ließen keinen Müll zurück und pöbelten niemanden an. Mal sehen, wie das weitergeht.
Was geht mir noch ab? Vieles. In Bregenz Eiersemmel plus Vanillemilch vom Milchpilz und das Lächeln der Pächterin Sabina Sakic (und ihrer Mutter). Gin-Tonic oder ein paar Mohra in der „Wunderbar“, am besten auf einer der Holly­woodschaukeln. Dann holst dir daneben Pizza und Wein und gehst zu den Stufen am Molo. Die waren die beste Idee beim Umbau des Hafens. Die riesige, schattenlose Betonfläche vor der Anlegestelle nicht.
Dann ist da die Pfänderspitze, mit Bier und Jause auf der Gasthausterrasse. Die abseits des Wanderweges versteckte Wiese mit dem Stadel auf dem „Hennabühel“, wenn man Richtung Fluh geht und dort hoffentlich der „Adler“ offen hat. Ich will gar nicht sagen, wo genau die ist, sonst sind auch dort die Horden. Der kühle, dunkle Wald, wenn man hinunter nach Thalbach wandert. Das Gasthaus Seibl oberhalb von Lochau! Der ganze Pfänderstock ist ein Gesamtkunstwerk.
Es gibt mehr als die Bodenseeregion. Ein Wunder ist stets der Lünersee, das blaue Auge im grauen Hochgebirge. Der Körbersee auch, man muss zur Batzenalpe wandern und Käs essen. Apropos Käs: Man kriegt im Oschta schon lange an g’höriga Vorarlberger Käs. Aber nichts ersetzt etwa den Sutterlüty, oder – noch besser – den Besuch einer Alpe, oder Sennerei – etwa jener in Schnifis und der Familie Greber vom Mooshof in Schwarzenberg.
Da ist die Aussicht von der Rankweiler Bergkirche übers Vorderland, dazu die schaurigen Dinger wie das Skelett im Glaskasten, die Gemälde mit dem Skelett von Urso und dem geköpften Eusebius sowie der Fridolin-Stein. Unweit davon klafft im Laternsertal die Üble Schlucht mit der schäumenden Frutz, ein wilder Ort, der scheinbar gar nicht so bekannt ist. Mit meinem Vater bin ich dort als Sechsjähriger durchgeklettert. Unser Bub tat das auch schon.
Von Rankweil müssen wir längs Frutz und Rhein zum See radeln, Pause im „Gasthaus am Rohr“ in Lustenau mit Most und Käsdönnala. Überhaupt wär da noch so viel zu machen … Den Sternen in Rankweil gibt’s leider nicht mehr. Klaus Feurstein und seinen Stone Club in Feldkirch auch nicht. Das Café Feurstein hoffentlich bald wieder.
All die Gerüche nach Heimat, die Klänge, der Dialekt, die Käsknöpfle, Kalbsbratwürscht, Leberspätzle, Felchen, Öpflküachle. Zack Zack und Subira. Ich freu mich sogar über Nerviges wie den Stau vor der Bärenkreuzung oder am Kreisverkehr beim Messepark. Seit einem Jahr hab ich davon nur über Radio-Vorarlberg-Webstream gehört. Wird Zeit, sich wieder live vor Ort zu ärgern.
Und über anderes. Etwa die Neugestaltung des Aussichtspunktes Dorf in Eichenberg. Dort war eine markante, grasige Kuppe mit Bänken und Baum. Ein romantischer Aussichtspunkt. Vor wenigen Jahren hat man den genialen Kraftort abgefräst und einen nackten, tourismusindustriellen Kiesplatz mit Absperrketten daraus gemacht. Seither wirkt’s hier wie ein Fahrradabstellplatz.
Seltsam ist auch, wir sind wieder beim Bodensee, dieses Ignoranz-Phänomen, wonach sich, überspitzt formuliert, bei vielen in V das Interesse an dem Juwel mit jedem Kilometer Abstand des Wohnorts davon halbiert. Vorderländer Freunde sagen, er sei ihnen „z’wit“ (Echt? Bei 20, 30 Minuten per Auto?). Sogar der in Lauterach murrte einmal: Was söll i dötta?“ Es scheint eine Reise jenseits von Weltbild und Ereignishorizont zu sein. Das endete mehrfach in Debatten über Interesse für die Heimat, Mobilität über die engere Scholle hinaus. Lassen wir das, die sind da empfindlich.
Vielsagend war eine Anruferin auf Radio V, die meinte, wenn man in Dornbirn in den Bus steige, kenne man sich nach 15 Minuten nimmer aus. Oh je. Das ist etwas, was mir am Ländle nicht abgeht: Die gewisse Engstirnigkeit, Begrenztheit, der Hauch Provinzialismus, den man noch finden kann. Und die Attitüde, dass die Welt im Osten am Arlberg endet oder dort sowieso böse ist. In V ist die nationale Selbstwertschätzung bei so manchen auf der Überheblichkeitshöhe der Wiener, die sich ja für die eigentlichen, besten, klügsten und super-urbanen Österreicher halten.
Wenn wir wieder in V sind, wird’s mir wegen der letzten Zeilen hoffentlich nicht ergehen wie dem Hl. Eusebius (Kopf ab mit der Sense!). Falls Corona es zulässt, hüpfen wir Ende Juli wieder in den See und wandern auf die Mittagsspitze. Und vielleicht auch nach Lôôz, Lutafaz und Gampeledianscht.

Lôôz, Lutafaz und Gampeledianscht

Dr Vattr vo mim Maa
kunnt vo Lôôz aha

Letschthii bin i mitm ge Lôôz ufi
und ufm Wääg döt ufi simr zuanara Wisa kôô
wor gseet hôt
dô haaßt mas Lutafaz

Vo Lutafaz hôt ma uf an Waal umigsaha
und mitta dinna im Waal isch a Wisa gsii
dô hôtr gseet
luag dôt umi
dees dô dötta isch Gampeledianscht

Lôôz, Lutafaz und Gampeledianscht
dees giit a Dreieck
net bim Euklid
abr bim Vattr vo mim Maa

Lôôz, Lutafaz und Gampeledianscht
ma waaß net, wia mas schriiba söll
wil jedr schriibts andrsch
abr Lôôz, Lutafaz und Gampeledianscht
dees ischt a Dreieck
net us Örtr odr Böm
net us Tüpfle idr Kaarta
es isch a Dreieck
i waaß net wo
vilicht im Härz
vom Vattr
vom Maa
vo miar

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