Peter Melichar

Historiker „vorarlberg museum“

Sind wir sicher?

Mai 2021

Das „vorarlberg museum“ widmet dem Thema unter dem Titel „Auf eigene Gefahr – Vom riskanten Wunsch nach Sicherheit“ eine Ausstellung und ein Buch.

Sind wir sicher? Können wir uns überhaupt der Wirklichkeit, in der wir uns befinden, sicher sein? Sind wir unserer Existenz gewiss? Sind wir dort in Sicherheit, wo wir leben und arbeiten? Sind unsere Reiseziele sicher und die Flugzeuge, Schiffe, Züge, Busse und Autos, mit denen wir sie erreichen wollen? Es gibt zweifellos sichere und unsichere Zeiten, das haben wir gerade in den letzten Monaten und Jahren, sofern wir es nicht schon wussten, gelernt. Davor gab es sichere und unsichere Länder, es gab (und gibt) – selbst in westlichen Metropolen – sogenannte „No-go-Areas“ und Karten, auf denen sie für Touristen und Investoren verzeichnet waren und sind.
Im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2006 kam es in Deutschland zu einer Auseinandersetzung, weil ein ehemaliger Regierungssprecher der SPD davor gewarnt hatte, gewisse Regionen der neuen Bundesländer zu besuchen; wegen der Ausländerfeindlichkeit könne nicht garantiert werden, dass man mit heiler Haut davonkäme, insbesondere, wenn die Haut nicht weiß sei. 13 Jahre zuvor ereignete sich vor den Augen des entsetzten Publikums mitten in Europa im zerfallenden Jugoslawien ein unvergessenes Drama tatsächlich: blutige Bürgerkriegsszenen und ethnische Säuberungen samt zugehörigem Flüchtlingselend in einem Land, in dem viele von uns in den Jahren zuvor auf Urlaub waren.
Die unheimliche Erfahrung, dass eine neuartige Infektionskrankheit das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben weitgehend lahmlegen kann, hat uns alle im Jahr 2020 überrascht und schockiert. Nicht zuletzt deshalb, weil ein Schadensfall eingetreten ist, gegen den man sich nicht versichern konnte. Zwar hat der Staat in einem begrenzten Ausmaß versucht, wirtschaftliche Schäden abzumildern und dabei natürlich unabsichtlich auch einigen großen Firmen, auch hier im Land, ermöglicht, ihre großen Gewinne durch das Ausnützen dieser Maßnahmen noch weiter zu steigern; doch das Weltereignis der Pandemie hat unser aller Vorstellungen von Sicherheit etwas ins Wanken gebracht. Aber haben die Generationen vor uns nicht auch schon zutiefst verunsichernde Krisen erlebt? Unserer Eltern, Groß- und Urgroßeltern erlebten den Ersten Weltkrieg, die Hyperinflation in den Nachkriegsjahren, die Weltwirtschaftskrise und nicht zuletzt die NS-Herrschaft und den Zweiten Weltkrieg mit Bombardierungen und Flüchtlingswellen. 
Vielleicht konnte unsere Vorstellung von Sicherheit im Laufe der Geschichte deshalb so eine ungeheure Macht entwickeln, weil der Wunsch, in Sicherheit zu leben, so groß und übermächtig wurde. Nun werden alle möglichen Maßnahmen getroffen, um das Leben selbst sicherer zu machen, es wurden Anstalten und Institutionen eingerichtet, um alle erdenklichen Schäden finanziell abzufedern und zu verteilen. Die Versicherungen erleichterten das Leben ungemein und machten im Schadensfalle die finanziellen Verluste für den Einzelnen erträglich. Vor allem die großen Kranken-, Renten- und Sozialversicherungen, auch die Arbeiterunfallversicherungen sind als große Errungenschaften allzu selbstverständlich geworden. Wer weiß noch, wie lange es gedauert hat, diese Versicherungen durchzusetzen? Doch schon bevor sie verwirklicht waren, spottete ein Philosoph darüber, dass man die Sicherheit zur obersten Gottheit erhoben habe. Wie konnte es dazu kommen, dass man einerseits sich so sehr bemühte, Sicherheit in allen Bereichen herzustellen, das Erreichte dann aber wieder sehr schnell verachtete? Adelt die Gefahr? Beginnt die Sicherheit, in der wir uns eingerichtet haben, uns allzu schnell zu langweilen? Benötigt man einen Hauch von Abenteuer, ein gewisses Risiko, um das Leben genießen zu können? Man erinnert sich an das Sprichwort: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.
In vielen Bereichen, in denen man sich um Sicherheit bemüht, zeigt sich, dass die Verringerung der Risiken auch ihre erbitterten Gegner hat. Selbst in der gegenwärtigen Coronakrise existiert ein Gegensatz zwischen jenen, die für größtmögliche Sicherheit eintreten (müssen), und jenen, die dafür plädieren, die bürgerlichen Freiheiten nicht allzu sehr einzuschränken. Seit die Coronakrise unsere Aufmerksamkeit in ihren Bann zieht, lehrt uns die Epidemiologie, dass die Grenzen der Sicherheit zwar nicht völlig neu zu ziehen, aber doch zu ergänzen sind. Eine Pandemie geht an keinem Land vorüber. Länder, die bislang als vergleichsweise sicher galten, können nun unter einer vergleichsweise hohen Mortalität leiden; Diktaturen, die man als bedrohlich empfand, erweisen sich als Regime, die Sicherheitsmaßnahmen viel leichter und schneller durchsetzen können, um welchen Preis auch immer. Die Coronakrise prägt die Welt, die zuvor gültige Weltkarte der Gefahren, Bedrohungen, Risiken ist aber nicht obsolet. Sie muss künftig um epidemiologische Erkenntnisse ergänzt werden. 
Das „vorarlberg museum“ als Veranstaltungsort für die Ausstellung „Auf eigene Gefahr“ hat bewusst ein Thema gewählt, das über Vorarlberg hinausweist. Die Sicherheit im Land ist bedingt durch hausgemachte, regionale Faktoren, aber auch abhängig von überregionalen, nationalen und internationalen Entwicklungen. Zur Abwendung der Klimakatastrophe kann man hier in Vorarlberg einen Beitrag leisten, der wichtig ist, aber das grundsätzliche Problem kann nicht zwischen Bregenz und dem Arlberg gelöst werden. Ähnlich ist es bei vielen Pro­blemen, vom Datenschutz über die Bekämpfung der Geldwäsche und der Korruption bis hin zur Bekämpfung einer Pandemie. Der Komplex der Sicherheiten zeigt unmittelbar und recht anschaulich die Vernetzung der Welt durch Kommunikation, Verkehr, Wirtschaft. Die Entscheidung von Unternehmern, Konsumenten, Touristen hier und jetzt hat immer Folgen irgendwo auf der Welt. Und was irgendwo in Pakistan, in Afrika oder sonstwo geschieht, hat Auswirkungen bei uns. Sichtbar wird der Zusammenhang durch die Reise- und Sicherheitswarnungen, die von den Behörden für die vielen Reiselustigen unter uns zur Orientierung herausgegeben und laufend aktualisiert werden müssen. Nichts aber macht die Verantwortung unseres Handelns so unmittelbar sichtbar wie die Flüchtlinge, die sich bei uns in Sicherheit bringen wollen und vor denen wir uns dann mit Mauern, Grenzzäunen und der Grenzschutzagentur Frontex zu schützen versuchen. Indem durch die Politik der Abschottung Flüchtlinge aus allen Weltgegenden gezwungen werden, in Lagern zu vegetieren oder sich in Wäldern zu verstecken, wird die zukünftige Sicherheit Europas und der westlichen Welt wohl kaum gestärkt. Wen wundert es, wenn jene, die das heute erleben, sich morgen radikalisieren? 
Die Beschäftigung mit Sicherheit, aber auch mit den Gefahren oder Bedrohungen, die wir empfinden, oder dem, was uns Angst macht und uns in unserem Sicherheitsgefühl stört, ist eine Reise in unser Innerstes. Denn bei allem, was objektiv bedrohlich sein mag, hängt es doch immer von unserer inneren seelischen Organisation ab, ob wir Situationen als lustvoll oder als bedrückend oder gar gefährlich empfinden, ob die Sicherheit uns langweilt oder eben Gefühle der Behaglichkeit und des Wohlempfindens erst möglich macht. 
Der Wunsch nach Sicherheit und die weitgehende Umsetzung von Maßnahmen zur Erhöhung von Sicherheit in allen erdenklichen Bereichen birgt eben auch Risiken, die wir manchmal erst dann erkennen, wenn wir hinter all den Schutzbrillen, Panzerungen, verfangen in Sicherheitsgurten – und atemlos gemacht durch Schutzmasken – bemerken, dass die eigentliche Gefahr nichts ist als unser eigenes Denken und Fühlen, die eigenen Werte und Imaginationen, jene Bilder des Schreckens und der Furcht, die wir von Kindheit an zu buchstabieren gelernt haben und die uns überwältigen. So groß manche Risiken auch sein mögen, so groß die Wahrscheinlichkeit auch sein mag, dass die eine oder andere Katastrophe uns, unsere Familie, unser Gemeinwesen, die Erde als Ganzes ereilen wird, ein mindestens so großes Problem ist die Vielzahl der Angststörungen, die uns dabei behindern, den Gefahren auszuweichen oder ihnen mit wirkungsvollen Mitteln zu begegnen.

Buchtipp!

Peter Melichar, Andreas Rudigier (Hg.) 
„Auf eigene Gefahr – Vom riskanten Wunsch nach Sicherheit“ 
vorarlberg museum Schriften 58
Falter Verlag
ISBN 978-3-85439-676-5

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