Gerold Strehle

geboren 1974 in Linz, Architekt, Gründer des Büros für Architektur und Umweltgestaltung in Bregenz und Wien

© Foto: Angela Lamprecht

Urbanität – Verständnis und Veränderungen des öffentlichen Raums

November 2019

Der öffentliche Raum gliedert sich in zwei Sphären – der gebaute und gestaltete Raum, bestehend aus den Häuserfassaden, Straßenquerschnitten und Traufenhöhen, sowie der immaterielle Raum, bestehend aus uns Menschen, Licht und Schatten, dem Wechsel der Jahreszeiten, von Bepflanzungen, von der akustischen Qualität sowie unserer höchstpersönlichen subjektiven Beziehung zu einem Ort. Zuständig für Ersteres sind gesetzliche Regelwerke, Behörden und Fachleute im Bereich der Planung. Zuständig für Zweiteres sind Sie und ich als Teilnehmer und Benutzer des öffentlichen Raums. Insbesondere die immaterielle Sphäre des öffentlichen Raums stellt für den aufmerksamen Beobachter ein höchst spannendes Forschungsgebiet dar, denn im öffentlichen Raum werden nicht nur gesellschaftliche Werte und Normen transportiert, sondern auch soziales Verhalten entwickelt und verhandelt. 
Urbanität ist kein empirisch eindeutig abgegrenzter Begriff, sondern beschreibt ein diffuses Feld an baukulturellen Merkmalen und wirtschaftlichen Aspekten, atmosphärische Eigenschaften und soziale Möglichkeiten der Bewohner von Ballungsräumen. Der mittlerweile für Vorarlberg häufig verwendete Begriff als „urbane Region“ trifft im Übrigen ganz gut die Lebenswirklichkeit von bald 400.000 Einwohnern. 

Wenn ein „urbaner“ Stadtteil gemeint ist, beschreibt dies in erster Linie ein lebendiges Quartier mit verschiedenen Möglichkeiten zur sozialen, kommerziellen oder kulturellen Interaktion. Urbanität in unserem Sprachgebrauch grenzt sich ab vom rückständigen und provinziellen Lebensstil. Die Anzahl der Verfügbarkeit unterschiedlicher Angebote hinsichtlich Berufsausübung, kultureller Einrichtungen, die Mobilität und Ausbildungsmöglichkeiten und vieles mehr prägen somit die sogenannte „urbane“ Region. 
Als im Vormärz zur Zeit Metternichs die Zensur, das allgemeine Versammlungsverbot und weitere Maßnahmen zur Unterdrückung der Bevölkerung einsetzten, hatte dies den Rückzug ins Private und die Kultivierung der häuslichen Idylle zur Folge. Was daraus resultierte, war die uns bekannte Kultur des Biedermeier als Gegenmodell zur Inanspruchnahme des öffentlichen Raums. In diesem Zusammenhang wird auf deutlichste Weise offenbar, wie gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen bei der Benutzung und Aneignung des öffentlichen Raums durch die Bewohner wechselwirken. 
Mit welcher Wucht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die einsetzende Urbanisierungswelle in den europäischen Metropolen nicht nur unsere Städte, sondern auch unsere Gesellschaft erfasste, wird bei Charles Baudelaire und Viktor Adler in allen Facetten geschildert. Ähnliche Urbanisierungsphänomene vollziehen sich aktuell in den Metropolregionen der heutigen Schwellenländer wie China und Südostasien. Im Vergleich dazu geht’s da in Wien oder im Rheintal gemütlich zu!
Aber was sind nun die Veränderungen des öffentlichen Raums, welche sich beispielsweise in Wien wie im Rheintal gleichermaßen ereignen?

Die Ankunft der Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien hatte in Wien zur Folge, dass ein Teil der Lebenskultur aus dem Balkan in die Donaumetropole gelangte. Menschen mit schlechten Wohnbedingungen weichen zwangsweise in den öffentlichen Raum aus, was direkt zur Folge hat, dass diese Bevölkerungsschicht auch Anteile des öffentlichen Raums einfordert sowie andere Aufenthaltsräume zur Kultivierung der eigenen Lebenskultur benötigt. Nachdem ähnlich zum aktuellen Rückbau von Straßenräumen in den Gemeinden Vorarlbergs auch das Wiener Magistrat Ende der 1990er Jahre innerstädtischen Parkraum zu Aufenthaltsraum rückwidmete, konnte sich eine beachtliche Gastgartenkultur inmitten dichter Quartiere etablieren und lebenswerten Straßenraum zurückgewinnen. 

Zehn Jahre später werden die Jugoslawen durch die Zuwanderung aus Polen und Teilen der Slowakei abgelöst, und wenn Sie heute mit dem Zug aus Vorarlberg ankommen und am Hauptbahnhof umsteigen, spricht das Reinigungspersonal der ÖBB moldawisch, bulgarisch und rumänisch. 
Organisierte Bettlerverbände, Kinderarmut und körperlich Invalide, wie wir sie in Österreich bisher noch nicht kannten, erscheinen in den Fußgängerzonen und Einkaufsstraßen in Wien ab 2004 – dem Beitrittsdatum der osteuropäischen Staaten, für deren Bürger auch die Niederlassungsfreiheit gilt wie für alle anderen EU-Bürger.

In Wien gibt es zum Unterschied zu früher keinen Nebel mehr, die sommerlichen Temperaturen beschäftigen die Stadtplaner intensiv. Ein typischer „Wienbesucher“ kam früher aus Europa, heute kommt er vor allem aus dem chinesischen und arabischen Raum. Das gastronomische Angebot spiegelt die ganze Welt wider, in der Volksschule, die Ihre Kinder besuchen, haben Sie drei Viertel der Vornamen der Mitschüler noch nie gehört. Die Studenten der Fakultät, an der ich seinerzeit studierte, kommen mittlerweile aus der ganzen Welt, in den 1990er Jahren waren die Österreicher fast zur Gänze unter sich.
Und wie veränderte sich das Straßenbild Vorarlbergs? Aus Sicht eines „innerösterreichischen“ Zuwanderers, welcher im Jahre 2008 seinen Lebensmittelpunkt von Wien nach Bregenz verlagerte, können aus subjektiver Sicht folgende Beobachtungen festgestellt werden: Entlang meiner Laufstrecke am Bodenseeufer höre ich neben dem Polnisch der Krankenpflegerinnen vor allem jenes Hochdeutsch, welches von jenseits des Weißwurstäquators stammt. 

Die vor zehn Jahren praktisch nicht vorhandenen Väter mit Kinderwagen werden seit Novellierung des Kinderbetreuungsgelds im Straßenraum präsenter. Dorf- und Stadtzentren werden zugunsten der Fußgänger und Radfahrer umgestaltet. Menschen mit verschiedensten Beeinträchtigungen werden durch die Barrierefreiheit und neuartiger Fortbewegungsmittel an der Nutzung und Teilnahme am öffentlichen Raum unterstützt. Ich gewinne zunehmend den Eindruck, dass die Anzahl der Mitmenschen internationaler Herkunft zunimmt.
Seit dem Anstieg der Wohnpreise ist Obdachlosigkeit sichtbar geworden, einzelne Roma- und Sinti-Familien bevölkern auch nun die Vorarlberger Stadtzentren. Die Staus an neuralgischen Verkehrsknotenpunkten ähneln denen in Linz und Salzburg. Es gibt deutlich mehr Veranstaltungen, die in den Fußgängerzonen und den Dörfern stattfinden – anders ausgedrückt: Vorarlberg wird urban!

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