Thomas Feurstein

* 1964 in Bregenz, Studium der Germanistik und Geografie, Biblio­thekar und Leiter der Abteilung Vorarlbergensien an der Vorarlberger Landes­bibliothek seit 1998.

 

Wann ist ein Berg ein Berg?

September 2023

Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten, aber sie ist vor allem für diejenigen von großer Bedeutung, die über ihre Bergtouren Buch führen und Berge „abhaken“ wollen. Der erste, der nach damaliger Zählweise alle 68 Viertausender der Alpen bestiegen hatte, war Carl Blodig (1859-1956) aus Bregenz, der schon früh mit der wechselnden Definition von Gipfeln konfrontiert wurde. Denn 1911 hatte er alle Berge seiner ursprünglichen Liste bestiegen und bereits die Erfüllung seines Lebens­traums gefeiert. Er beschreibt, wie er seinen letzten 4000er erklomm: „Da kam der Sommer 1911 mit seinen Hitzwellen. Schon Anfangs Juli hatten die Hochgipfel der Silvretta ihr winterliches Schneekleid abgeworfen.“ Die guten Bedingungen ließen Blodig ins französische Courmayeur eilen, um mit Gefährten aus England die Besteigung des Pic Luigi Amadeo in Angriff zu nehmen. Der historische Gipfelsieg wurde dann auch dementsprechend zelebriert: „Wenige Minuten nach 8 Uhr blieben Jones und Young stehen und forderten mich in liebenswürdigster Weise auf, als erster den Gipfelblock zu betreten. Es war ja mein achtundsechzigster Viertausender. Mit einer gewissen Feierlichkeit setzte ich meinen Fuß auf die vor unserer Besteigung nur einmal betretene Kuppe …“
Zwei Jahre danach erfuhr er, dass inzwischen in den französischen Alpen zwei Erhebungen zu selbständigen Gipfeln erklärt worden waren. Er trachtete danach, die beiden Gipfel unverzüglich zu besteigen, wurde aber durch die Wirren des Ersten Weltkriegs und eine langwierige Oberarmverletzung lange davon abgehalten. Ein erster Versuch scheiterte im Jahr 1931 am schlechten Wetter und so war es erst im Sommer 1932 so weit, dass der 73jährige Blodig in Ermangelung geeigneter Begleiter einen Alleingang auf die fehlenden Gipfel wagte. Mit schwerem Gepäck kämpfte er sich über 55 Grad steiles Eis nach oben, um dann in 4000 Meter Höhe zu biwakieren. Am nächsten Morgen überwand er die wenigen noch ausstehenden Höhenmeter und hatte somit die noch fehlenden Viertausender bezwungen. Nach seiner Heimkehr resümierte er über seine Bergsteigerkarriere, wohl auch im Gedenken, dass einige seiner Freunde beim Klettern tödlich verunglückt waren: „Ich bin klein und bescheiden geworden, weil ich weiß, wie oft nur ein gütiges Schicksal, eine freundliche Geste des Berges mich ungekränkt dem Leben wiedergab.“
Eine sich immer wieder ändernde Liste, die schon bei Blodig für Verwirrung gesorgt hatte, motivierte schließlich 1994 die UIAA (Union Internationale des Associations d´Alpinisme, Dachverband der Bergsportvereine), die erste offizielle Liste der Alpen-Viertausender herauszugeben, die dem Bedürfnis des Menschen nachkommt, wichtige Hauptgipfel von unzähligen kleinen Nebengipfeln, Graterhebungen und vorgelagerten Kuppen zu unterscheiden. Maßgeblich für diese neue Festlegung ist die Tiefe der Einsattelung, die einen Gipfel von einer noch höheren Erhebung trennt. Demnach gibt es seither eine autorisierte Liste von 82 Alpengipfeln über 4000 Meter Seehöhe, die Männer und vermehrt auch Frauen zu immer neuen Rekorden anspornt. Ziel ist längst nicht mehr, nur alle Gipfel zu besteigen, sondern die Kürze der Zeit, in der das gelingt, ist mittlerweile das entscheidende Kriterium geworden.
Es müssen offensichtlich zwei Seelen in Carl Blodig gewohnt haben, denn neben dem ehrgeizigen Ziel, alle 4000er zu besteigen, sah er sich auch als „begeisterten Verkünder der Schönheiten der Alpenwelt“, der vor allem in Vorarlberg unzählige Bergtouren auch auf unbekannte Gipfel unternahm. In einem Aufsatz plädiert er dafür, dass es beim Bergsteigen nicht um das Streben nach silbernen Bechern und Medaillen gehen sollte, „denn höher schlagen die Pulse, hell schweift der Blick hinaus auf die Lande, wenn wir auf unseren Bergen stehen und wenn es auch nur der schöne Gebhardsberg sein sollte…“ In seinem Aufsatz „Der Alpinismus als sittliche Größe“ argumentiert er sogar, dass die Berge wohl der beste Ort seien, um den Charakter zu schulen: „Sicherheit des Urteils, Beharrlichkeit des Willens […] Härte gegen sich selbst, Milde und Rücksichtnahme für Schwächere, das sind Eigenschaften, die man nirgends besser erwirbt als auf Reisen in den Bergen.“ 
Es kam nicht von ungefähr, dass Blodig zu einem Pionier des Alpinismus wurde, denn bereits in seiner Kindheit, die er in Graz verbrachte, fühlte er sich von den Bergen magisch angezogen: als achtjähriger Bub lief er an einem Samstag, ohne seine Eltern zu informieren, von Graz aus, mit ein bisschen Brot und gedörrten Pflaumen als Proviant, in Richtung des fast 20 Kilometer entfernten Hausbergs Schöckl, übernachtete auf einer Alm und löste durch seine nächtliche Abwesenheit eine große Suchaktion aus. Die darauffolgende Tracht Prügel verminderte keineswegs seine Sehnsucht nach den Bergen. Nachdem er als Sohn des renommierten Grazer Augenarztes Carl Blodig sen. bei seinem Vater zum Doktor der gesamten Heilkunde promovierte, ließ er sich 1885 als Augenarzt in Bregenz nieder, wohl auch um den Gipfeln der Westalpen näher zu sein. Er berichtet, dass er oft um 2 Uhr früh aufgestanden sei, um nach einer kleineren Bergtour um 8 Uhr wieder zuhause bei der Arbeit sein zu können. Mit 85 Jahren habe er noch 25 Patienten pro Tag in seiner Ordination am Bregenzer Thalbach empfangen und auch mit 90 Jahren noch Augenoperationen durchgeführt.
Neben zahlreichen Publikationen in einschlägigen Zeitschriften sowie dem legendären Blodig-Alpenkalender (erschien zwischen 1926 und 1976), gilt sein Buch „Die Viertausender der Alpen“ als ein Standardwerk der alpinistischen Literatur. Dem damals in Bergsteigerkreisen weit verbreiteten Zeitgeist entsprechend, bekannte er sich 1923 im dortigen Nachwort wohl unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs zur großdeutschen Gesinnung: „Wir sind heute ein geknechtetes, unglückbeladenes Volk, […] aber deutsche Arbeit und deutscher Forschungstrieb, deutscher Erfindungsgeist und deutsche Ehrlichkeit, sie werden uns durch Nacht zum Licht, durch schwere Not und harte Entbehrung, durch bittere Opfer und heißen Kampf zum Sieg führen!“ Aussagen, die damals im Alpenverein weit verbreitet waren. Die organisatorische Struktur des 1869 gegründeten Deutschen Alpenvereins, der Zusammenschluss des Deutschen und des Österreichischen Alpenvereins sowie der Name des gemeinsamen Vereins brachten großdeutsche Gesinnung mehrfach zum Ausdruck. 
Die Urenkel von Carl Blodig sind sich bewusst, dass der Nachlass (Bücher, Fotografien, medizinische Geräte…) ihres außergewöhnlichen Vorfahrens in einer öffentlichen Institution der Nachwelt erhalten bleiben sollte. In Weiterführung einer langjährigen guten Zusammenarbeit zweier Institutionen finden die Originale eine neue Heimat im Stadtarchiv Bregenz, während die digitalisierten Fotos auf der Bilddatenbank „volare“ der Vorarlberger Landesbibliothek veröffentlicht werden. 

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