Peter Melichar

Historiker „vorarlberg museum“

Wer oder was ist Konservativ?

März 2021

In Zeiten einer Krise ist Orientierung wichtig, auch in politischen Dingen. Aber während es vor 150 Jahren, also um 1870, noch verhältnismäßig klar war, wer oder was konservativ war, wer sozialistisch und wer liberal und es auch vor 100 Jahren, in der Krise nach dem Ersten Weltkrieg zwar alle möglichen Probleme gab, aber kaum eine Orientierungslosigkeit, so scheint das heute anders zu sein. Nicht erst in allerletzter Zeit ist es mühsam, zu beurteilen, wo links und wo rechts ist, wer konservativ, wer liberal und wer faschistisch. Ernst Jandl spottete schon 1966: „manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht velwechsern / werch ein illtum“ (lichtung, in: Laut und Luise)
Verlassen wir daher für einen Moment den Raum der gleichsam natürlichen politischen Ordnung, der geprägt ist von den großen Achsen zwischen Anarchie, Liberalismus und Diktatur, zwischen oligarchischen, monarchistischen oder demokratischen Konzepten. In diesem Raum, in dem wir uns mit großer Routine bewegen, sind wir aufgewachsen, in ihm haben wir wahrnehmen, riechen und sehen und hören gelernt und – so ist zu fürchten – auch zu denken.
Verlassen wir also kurz diesen Raum und sehen uns zwei Bilder an. Das erste zeigt die typische Behandlung einer Wiese, die gerade gedüngt wird. Ein Tankwagen steht bereit, um den kleinen Güllefassanhänger mehrfach aufzufüllen. Der Vorgang ist – jeder hat das schon in unterschiedlicher Intensität wahrgenommen – mit der Verbreitung eines ungeheuren Gestanks verbunden, der tagelang anhält. In den ersten beiden Tagen ist in der Umgebung einer so behandelten Wiese die Luft so scharf, dass man Atembeschwerden hat. Man fragt sich – zumal wenn man eine Katze, einen Hund oder gar ein Kind hat – wie gefährlich das hier ausgebrachte Zeug ist. Es verwandelt die Wiese für Tage und Wochen in eine schwarze, stinkende Fläche. Das Zeug hat nichts mehr mit dem zu tun, was in meiner Kindheit und Jugend, also in den sechziger und siebziger Jahren, auf die Wiesen kam. Die Gülle, die damals von den Bauern ausgebracht wurde, roch auch nicht besonders gut, aber sie raubte einem nicht für Tage den Atem.
Und es hat einen weiteren Effekt: Es fördert ungemein das Wachstum des Grases, verhindert allerdings, dass – vom Löwenzahn abgesehen – irgendeine normale Wiesenblume gedeiht. Anfragen bei den zuständigen Ämtern ergeben jeweils, dass das Zeug nach irgendeiner EU-Regelung zugelassen ist. Die Vorgangsweise der Agrarindustrie, die das Zeug auf die Wiesen ausbringt, hat allerdings ein Bündel von Folgen, ausgehend von dem Effekt: Es gibt heute kaum noch eine Blumenwiese zu sehen. Nur dort, wo das Gelände so unwegsam ist, dass sich die Ausbringung nicht rentiert, können noch Blumen wachsen. Es gibt in ganz Mitteleuropa einen erschreckenden Rückgang an Blumenwiesen. Dabei werden unterschiedliche Zahlen kolportiert. Mir persönlich genügt, dass ich bei meinem Spaziergang durchs Ried keine Blumenwiesen mehr sehe. Das hat Folgen: Ein Massensterben der Insekten, eine starke Verringerung der Bienen, Dezimierung der Vögel.
Sehen wir uns ein zweites Foto an: Ein Einfamilienhaus neben einem Parkplatz, im Hintergrund eine graue Wand. Diese Wand ist etwa 36 Meter hoch und gehört zu einem Industriebetrieb. Sie steht westlich vom Mehrerauer Wald auf einer ehemaligen Wiese. Die Errichtung der Halle, zu der sie gehört, machte die Verwandlung einer großen weiteren Wiese in einen Parkplatz notwendig. Denn die vielen hundert Arbeiter, die in dem Betrieb arbeiten, haben natürlich das Recht, mit ihren Pkw neben der Industriehalle, in der sie arbeiten, zu parken. Manche von ihnen, aber nicht allzu viele, nehmen auch die Bus- und Bahnlinien in Anspruch, die sich in unmittelbarer Nähe befinden. Es handelt sich bei der Wand, die da wie ein zu Stein gefrorener Tsunami in der wunderschönen Landschaft am Bodensee steht, zweifellos um eines der interessantesten Monumente der Vorarl­berger Architektur und Baukultur, inspiriert vom Verschönerungsverein „Sauberes Vorarlberg“. Interessant ist das Gebäude, zu dem diese Wand gehört, vor allem deshalb, weil es neue und bahnbrechende Perspektiven und Fragestellungen auf den Punkt zu bringen ermöglicht: Anything goes! So lautet das Motto der Bauträger und Bauämter. Die Einhaltung diverser Baugesetze und Bauordnungen versteht sich von selbst und bedeutet keinerlei Störung. Man kann vielerorts das Zu- und Verbauen der letzten freien Flächen beobachten. In Lustenau etwa werden gnadenlos auf die letzten freien Flächen Gebäude ge­pfercht, ohne dass jemand sich fragt, wie die Menschen, die künftig hier wohnen werden, auch leben können. In welchen Parks können sie sitzen und miteinander plaudern, wo können die Kinder spielen, mit welchen Verkehrsmitteln werden sie sich zwischen den Sphären der Arbeit, des Konsums und dem Wohnort bewegen? Schon jetzt ist etwa zu beobachten, dass Kinder und Jugendliche hier überall verscheucht werden. Bald sind die letzten Grünflächen innerorts verbaut. Weitere Umwidmungen werden unweigerlich folgen, und dann geht es weiter. Der interessante Punkt, auf den uns die Bregenzer Wand, die prägnant wie kaum etwas anderes das fröhlich-brutale „Anything goes!“ verkörpert, hinweist, ist spätestens dann gekommen, wenn wirklich buchstäblich alles verbaut ist. Man darf mutmaßen, dass es dann nur noch in die Höhe gehen kann. Aber wie hoch hinauf? 
Ästhetische Fragen hat diese Baukultur längst hinter sich gelassen, genauso wie die Agrarindustrie moralische Fragen. Als zentraler Wert hat sich hier allein durchgesetzt, was auch das Wesen der erfolgreichsten Krebszellen zu sein scheint: Wachstum. Hat eine Milchkuh in der Schweiz um 1900 etwa 2500 Liter pro Jahr, aus der Rasse des Montafoner Rinds in den 50er- und 60er-Jahren etwa 3000 Liter jährlich gegeben, beträgt heute die Milchleistung 12.000 Liter. Das Montafoner Rind, einst eine Ikone der Vorarlberger Identität, war dafür nicht geeignet und ist mittlerweile – übrigens unbemerkt selbst von dem Züchterverband – ausgestorben. In der Bauwirtschaft ist es ähnlich: Das alte Rheintalbauernhaus ist ein Fall für die Abrissbirne: Das Renovieren lohnt sich nicht mehr, da der Verkehrswert des Bodens so angestiegen ist, dass die Grundfläche eines derartigen Hauses anders viel lukrativer verwertet werden kann. Gleichgültig, ob man die Gebäude zählt, die Kubatur oder die verbaute Fläche in den entsprechenden Maßen angibt: Das Wachstum war und ist gewaltig. Und es wird – natürlich – weiter wachsen.
Das sind nur kleine Beispiele, ausgehend von den beiden Bildern, die lediglich eine Anregung sein mögen, über das, wer oder was heute konservativ ist, einmal anders nachzudenken. Es war in den letzten Jahrzehnten und vielleicht noch länger ein Denkstil vorherrschend, der dem Wachstum alles untergeordnet hat. Spottete Friedrich Nietzsche um 1880, man habe alles der Sicherheit untergeordnet und man bete diesen neuen Wert als „oberste Gottheit“ an, so war es seit dem Zweiten Weltkrieg das Wachstum, dem man wirklich alles unterwarf. Gewiss regulierte man das ungehemmte Wachstumspotenzial etwas, um den sozialen Frieden zu wahren, doch sobald es möglich und sinnvoll erschien, wurden die Verhältnisse dereguliert, um das Wachstum erneut freizusetzen und auch zu beschleunigen. In dieser Konstellation war und ist auch klar, wer oder was konservativ (im eigentlichen Wortsinn von bewahrend) ist: Diejenigen, die zur Vernunft mahnen, die bremsen, die unwiederbringliche Zerstörungen verhindern oder aufhalten wollen. Diejenigen, die Mechanismen der Verantwortlichkeit in bestimmte Planungsprozesse einbauen wollten, die die Durchsetzung bestimmter oberster Werte nicht allein Macht- und Vermögensverhältnissen unterworfen sehen wollten. 
Es gibt heute kein Problem und keinen gesellschaftlichen, ökonomischen und weltanschaulichen Konflikt von einiger Relevanz, in dem sich die Frage, wer oder welche Haltung konservativ ist, nicht aufs Neue überlegt und verhandelt werden müsste. Die alten Denkgewohnheiten und Phrasen funktionieren nicht mehr. Die Streitfrage, ob man Ausländer aller Art, Gastarbeiter, Asylsuchende, Wirtschafts- und Kriegsflüchtlinge aufnehmen soll, ob und wie sie zu fördern sind, hat wie wenige andere die Gesellschaft gespalten. Aber sind nun konservativ diejenigen, die die Einhaltung der Gebote von Menschlichkeit und Fairness durchsetzen wollen, oder diejenigen, die die Heimat vor Überfremdung schützen und einen vermeintlichen oder tatsächlichen Austausch der Bevölkerung verhindern wollen? Wer will was erhalten und schützen? Mag sein, dass zur Flüchtlings- und Ausländerfrage neuerdings die Seuchenfrage tritt: Ist konservativ, wer die Wirtschaft oder wer die Alten oder wer die Kinder und Jugendlichen schützt? 
Die Grundfrage ist: Sind diejenigen konservativ, die das Wachstum schützen, oder die, die uns vor dem Wachstum schützen? Seitdem der berühmte Bericht des Club of Rome 1972 mit dem Titel „Die Grenzen des Wachstums“ die Feuilletonredaktionen und wohl auch einige gut besetzte Amtsstuben in Regierungsgebäuden erschüttert hat, ist beinahe ein halbes Jahrhundert vergangen. Damals wurde anhand diverser Exponentialkurven die einigermaßen unbestrittene Prognose gestellt, dass es in 100 Jahren mit dem Wachstum zu Ende sein würde. Warnungen, dass die Generation der Nachkommen Urenkel und Ururenkel katastrophale Folgen zu tragen haben werde, die unser heutiges Handeln, insbesondere unser Konsum verursacht, ließen sich bislang leichten Herzens in den Wind schlagen. Denn zu diesen Nachkommen haben wir keine Beziehung, wir kennen sie nicht, wissen nicht einmal mit Bestimmtheit, dass es sie geben wird. Mögen sie auch die Kinder unserer Kinder unserer Kinder sein: Deren Fluch wird uns nicht mehr treffen. Wir werden die Apokalypse nicht erleben, auch wenn wir sie verursachen, auslösen und mit aller Kraft – selbstverständlich ohne böse Absicht – an ihrer beschleunigten Verwirklichung arbeiten. Anders als beim Schachspiel, bei dem man die Folgen seiner eigenen Fehler spätestens im Endspiel bis zum bitteren Ende auskosten muss, ist die gegenwärtige Weltgesellschaft auf andere Weise organisiert, unendlich komplexer. In ihr sind die Risiken höchst ungleich verteilt, sowohl in der Jetztzeit als auch zwischen der Gegenwart und der Zukunft. Vor allem lebt es sich im Heute besser als im Morgen einer mit hoher Wahrscheinlichkeit oder gar mit Gewissheit eintretenden Klimakatastrophe. Das Endspiel werden in der Menschheitsgeschichte Generationen bestreiten müssen, die an der Verursachung diverser Katastrophen unbeteiligt und unschuldig waren. Aus der Perspektive dieser letzten Menschen auf der Erde wird es dann klar sein, wer konservativ war und wer nicht. Aber es wird sie nicht mehr interessieren.

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