Luisa Fohn

(© Luisa Fohn)

Widerstand aus dem Westen

November 2018

Vor 40 Jahren, am 5. November 1978, stimmten über 84 Prozent der Vorarlberger gegen die Inbetriebnahme des bereits fertiggestellten Atomkraftwerks Zwentendorf. Dieses Ergebnis war ausschlaggebend für ganz Österreich.

Die Sonne scheint auf das große Betongebäude mit dem schlanken, hohen Schornstein. Es ist ruhig hier. Im Sommer soll mehr los sein, wenn Tag für Tag Hunderte Radfahrer an der Donau entlangfahren. „Haupteingang Kraftwerks­anlage“ steht auf einem unauffälligen Schild auf der Hinterseite des grauen Betonklotzes. Im Eingangsbereich kommen wir an der verlassenen Koje des Sicherheitspersonals vorbei. Es sieht so aus, als wären die Mitarbeiter gerade nur auf Mittagspause – Stifte, Stempel, Mappen sowie mehrere Festnetztelefone liegen auf den Schreibtischen verteilt. Über einer Reihe von Waschbecken hängen verschiedenfarbige Arbeitsanzüge in blau, weiß und gelb. Am auffälligsten ist die leuchtend orange Unterwäsche, die von der Vorarlberger Firma Mäser stammt. Die Warnfarbe soll verhindern, dass das Personal versehentlich in verstrahlter Betriebsunterwäsche nach Hause geht. Auf unserer linken Seite befinden sich einfache Duschkabinen, die ausschließlich kaltes Wasser spenden. Strahlung wird von der menschlichen Haut oberflächlich aufgenommen; bei einer warmen Dusche würden sich die Poren öffnen und die Radioaktivität in tiefere Hautschichten eindringen. Der gelb gestrichene Gang mit niedrigen Decken führt uns zum Lift, mit dem wir in die Reaktorhalle hinauffahren. Diese ist ebenfalls in den klassischen Gelb- und Orangetönen der 70er-Jahre gehalten. Im Atomkraftwerk Zwentendorf sieht es aus, als wäre die Zeit stehen geblieben – gewissermaßen ist sie das auch. 
Am 5. November 1978 entschied die österreichische Bevölkerung bei der ersten Volksabstimmung der Zweiten Republik gegen die Inbetriebnahme des bereits fertiggestellten Kernkraftwerkes. Im Jänner desselben Jahres waren bereits die Brennstäbe geliefert geworden – „man hätte eigentlich nur noch auf den roten Knopf drücken müssen“, erzählt Stefan Zach, Historiker und Pressesprecher des EVN-Konzerns (Energieversorgung Niederösterreich), dem das Kraftwerk seit 2005 gehört. Dazu kam es aber nie. 

„Die meisten Österreicher halten den ehemaligen Bundeskanzler Bruno Kreisky für den Vater von Zwentendorf. Das ist aber nicht ganz richtig“, stellt Zach bei seiner Führung durch das Kraftwerk klar. Die Befassung mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie begann in Österreich schon in den 1950er-Jahren. 1969 genehmigte dann die ÖVP-Alleinregierung Klaus II den Bau des AKW Zwentendorf. Unter dem nachfolgenden Bundeskanzler Bruno Kreisky (SPÖ) begannen die Bauarbeiten des Kraftwerks am 4. April 1972. Schon vor der Fertigstellung im Jahr 1976 kam es zu Gegenprotesten in ganz Österreich. Der meiste Widerstand stammte dabei aus Vorarlberg – dem Bundesland, das am weitesten entfernt von der Anlage war. 

Harald Walser, Historiker und ehemaliger Nationalratsabgeordneter der Grünen, nennt dafür mehrere Gründe. Zum einen wurde in Vorarlberg bereits in den 1960er-Jahren heftig gegen das geplante Ölkraftwerk im grenznahen Rüthi in der Schweiz protestiert. Am selben Standort hätte dann Anfang der 70er-Jahre ein Atomkraftwerk entstehen sollen, was in St. Gallen und insbesondere in Vorarlberg Empörung auslöste. Die Anti-Atomkraft-Bewegung im Land, angeführt von dem Bregenzer Ehepaar Franz und Hildegard Breiner, war entstanden. „Diese wurde außerdem sehr stark vom damaligen Chefredakteur der ,Vorarlberger Nachrichten’, Franz Ortner, unterstützt“, erzählt Walser. Im Vergleich zum Rest von Österreich, in dem hauptsächlich positive Medienberichte zu finden waren, mobilisierte Ortner mit seiner Berichterstattung gegen Atomenergie. Viele junge Vorarlberger, unter ihnen auch Harald Walser, pilgerten 1977 zur Großdemonstration nach Zwentendorf. Der Altacher bezeichnet die damalige Anti-AKW-Bewegung im Land als überparteiisch, „es ging dabei nicht um Parteipolitik, sondern um die Gefahr der unkontrollierbaren Energie“. 

Neun Vorarlberger Mütter führten im selben Jahr einen Hungerstreik vor dem Bundeskanzlerarmt durch. Auch die Vorarlberger SPÖ unter dem Bregenzer Bürgermeister Fritz Mayer stellte sich gegen die Parteilinie von Kreisky. Der damalige Bundeskanzler hatte anfangs nicht vor, sich dem Protest zu beugen. Eines seiner berühmtesten Zitate richtete er an die Atomgegner: „Ich habe es nicht notwendig, mich von ein paar Lausbuben so behandeln zu lassen ...“ Kreisky entschied schließlich, die fertige Anlage einer Volksabstimmung zu unterziehen und verband diese mit seinem persönlichen politischen Schicksal. Sollte sie negativ ausgehen, würde er zurücktreten. Walser sieht darin einen weiteren Grund für die starke Ablehnung Zwentendorfs im Land: „Es war für viele in dem damals noch sehr konservativen Vorarlberg auch ein Nein zu Kreisky.“ 
Dieses Nein war letztendlich ausschlaggebend am 5. November 1978. Während österreichweit das Ergebnis knapp für die Inbetriebnahme des Kraftwerks sprach – im Burgenland waren es sogar fast 60 Prozent, in Wien 55 Prozent – machte Vorarlberg mit über 84 Prozent dagegen das Zünglein an der Waage aus. 

Eine knappe Mehrheit von 50,47 Prozent der österreichischen Bevölkerung, was einer Differenz von insgesamt nur 30.000 Stimmen entsprach, entschied sich somit gegen Zwentendorf. Anstatt zurückzutreten, blieb Bruno Kreisky weiterhin im Amt – mit dem Argument, dass es ohne ihn schließlich die Möglichkeit zur Abstimmung gar nicht gegeben hätte. Im Dezember desselben Jahres beschloss der Nationalrat das Atomsperrgesetz: Auch zukünftig dürfen in Österreich keine Atomkraftwerke gebaut oder in Betrieb genommen werden, ohne vorher die Bevölkerung zu fragen. Bei der Nationalratswahl 1979 erreichte die SPÖ erneut die absolute Mehrheit, Kreisky war noch bis 1983 Bundeskanzler.

Von der sogenannten Brennelemente-Wechselbühne sehen wir von oben direkt in den zylindrischen Reaktor, in dem die Kernspaltung stattfinden würde. Ein graues, tiefes Loch, in dem nur eine einzelne Leuchtstoffröhre Helligkeit spendet. Die Wandfarben und Böden in den Bereichen, die heute für Besucher zugänglich sind, wurden teilweise vom EVN-Konzern erneuert. Obwohl schon 1978 die Volksabstimmung über die Zukunft des Atomkraftwerks entschied, wurde es noch bis 1985 in einer Art „Konservierungsbetrieb“ gehalten. „Die Bosse der zuständigen Gesellschaft dachten, dass die Regierung vielleicht doch noch ihre Meinung ändern würde“, erklärt Stefan Zach von der EVN. Ein Großteil der Mitarbeiter blieb in Zwentendorf beschäftigt, „das Kraftwerk wurde für den Tag X in Schuss gehalten.“ Alte Schichtbücher und Dienstmitteilungen in der Schaltwarte zeugen noch immer von dieser Zeit. Die Kosten des siebenjährigen Konservierungsbetriebs beliefen sich umgerechnet auf weitere 500 Millionen Euro; insgesamt kostete Zwentendorf 1,02 Milliarden Euro (14 Milliarden Schilling). Mitte der 1980er war schließlich nur noch eine Person übrig, auch der „Hausmeister von Zwentendorf“ genannt. Über zwei Jahrzehnte hinweg schlenderte er Tag für Tag mit seinem Hund und einer Ölkanne in der Hand durch das Kraftwerk und ölte Metallteile ein, damit sie nicht rosteten. 
Zu Fuß geht es für uns wieder einige Stockwerke nach unten, von wo wir durch eine Montageöffnung in den Sicherheitsbehälter sehen. Bei Betrieb wäre diese Öffnung verschlossen und wie viele andere Bereiche der Anlage nicht oder nur schwer betretbar, da die radioaktive Strahlung zu hoch wäre. 

Zwentendorf wird deswegen heute unter anderem für Schulungszwecke für die Abrüstung von typengleichen Atomkraftwerken – in ganz Europa gibt es über drei Dutzend davon – genutzt. Harald Walser findet es ein schönes Symbol, „dass ein nie aktiviertes AKW heutzutage zum Deaktivieren verwendet wird“. Es sei zudem ein Mahnmal und ein enorm wichtiges Zeichen für direkte Demokratie in Österreich. 40 Jahre nach der Volksabstimmung ist Walser noch immer stolz auf das Ergebnis Vor­arlbergs. Das Jubiläum steht nicht umsonst unter dem Motto „Das wichtigste Nein unseres Lebens“.

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