
„Den Schritt radikal vollzogen“
US-Präsident Trump scheint von Zöllen geradezu besessen zu sein. Woher rührt diese Obsession? Warum sehen die USA wirtschaftliche Offenheit heute vorrangig als Risiko? Diese und andere Fragen beantwortet Politikwissenschaftler Marco Overhaus (50). Der Autor des hochaktuellen, erst im April erschienenen Buches „Big Brother Gone. Europa und das Ende der Pax Americana“ sagt dabei, dass man „erst verstehen kann, was Trump antreibt, wenn man einen genauen Blick auf die politische Polarisierung in den USA wirft“.
Herr Overhaus, Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die Grundpfeiler der Pax Americana, die lange Zeit zumindest im Westen Sicherheit garantierte, in Auflösung begriffen sind.
Die Vorstellung, dass US-amerikanische Macht internationale Sicherheit schafft, ist bis heute tief in den politischen Kreisen der USA verankert, sogar in der Trump-Administration. Doch die Pax Americana, die die transatlantischen Beziehungen und die NATO sieben Dekaden lang geprägt hat, beruht in ihrem Kern auf der Vorstellung, dass US-amerikanische Macht nur dann für internationale Stabilität sorgen kann, wenn sie drei Bedingungen erfüllt: Sie muss militärisch in Allianzstrukturen eingebettet sein, sie muss von ökonomischer Offenheit flankiert werden, und sie muss auf liberal-demokratischen Werten basieren. Das sind die drei Säulen der Pax Americana. Und alle drei erodieren schon seit längerem, aber jetzt unter Trump II drohen sie vollends einzustürzen.
Wobei es Trump nicht um Europa geht und nicht um Russland. Er hat China im Blick.
Ja. Man muss aber dazusagen, dass die USA dort bereits seit längerem ihre größten Herausforderungen sehen. Obama hatte bereits 2011 die Hinwendung nach Asien ausgerufen. Was unter Trump neu ist, ist die Tatsache, dass mit dieser Konzentration auf China eine dezidierte Geringschätzung für Europa einhergeht und dass die gemeinsame liberal-demokratische Wertegrundlage wegzubrechen droht.
Warum steht China eigentlich derart stark im Fokus der USA?
China fordert die Vorherrschaft der USA im Indopazifik geopolitisch und sicherheitspolitisch heraus. Doch Breite und Tiefe der Ressentiments gegenüber Peking lassen sich ohne die wirtschaftliche Dimension nicht verstehen. Die Wahrnehmung eines Abstiegs gegenüber China ist zu einer treibenden Kraft der US-Außen- und Sicherheitspolitik geworden.
Wie ist das zu verstehen?
Bei aller politischen Polarisierung ist man sich in den USA parteiübergreifend einig, dass China für die Misere der amerikanischen Mittelschicht verantwortlich ist. Sowohl Republikaner als auch Demokraten führen die Deindustrialisierung der USA und den damit verbundenen Verlust von Millionen US-amerikanischer Arbeitsplätze ganz wesentlich auf China zurück. Zudem sehen sie in den unfairen Handels-Praktiken Chinas einen Verrat, nachdem sich die USA ja zu Beginn der 2000er Jahre noch sehr für die Integration Chinas in die Weltwirtschaft eingesetzt hatten. Und schließlich bezieht sich die Wahrnehmung eines Abstiegs zwar allgemein auf die Wirtschaft, insbesondere aber auch auf den Technologiesektor. Dieser Sektor war jahrzehntelang die Grundlage der wirtschaftlichen und militärischen Vorherrschaft der USA. Dass die Amerikaner heute in immer weniger Branchen eine technologische Vorrangstellung für sich beanspruchen können, und teilweise bereits von China überholt worden sind, das befeuert die Ängste.
Sie sagen, dass all das in Summe zu einem Paradigmenwechsel in der US-Außenwirtschaftspolitik geführt habe, zu einem Wechsel mit gravierenden Konsequenzen.
Wirtschaftliche Offenheit wird in den USA heute vorrangig als Risiko gesehen, das Verwundbarkeiten schafft. Das ist ein Paradigmenwechsel. Denn nach den Erfahrungen der großen Depression und dann des Zweiten Weltkriegs hatte in den USA jahrzehntelang das Paradigma gegolten, dass der freie Austausch von Waren, Kapital, Technologien und Menschen Wohlstand und Sicherheit schafft. Und daher im gegenseitigen Interesse erfolgt. Doch im vergangenen Jahrzehnt begann sich das Paradigma der Geoökonomie immer stärker durchzusetzen. Es geht nur noch um die Fragen, bei wem freier Handel größere Abhängigkeiten schafft und wer daraus einen größeren Nutzen ziehen kann. Diesen Schritt, der bereits in der zweiten Amtszeit von Obama begonnen hatte und von Biden fortgesetzt wurde, hat Trump in seiner zweiten Amtszeit nun radikal vollzogen; unter ihm ist dieses geoökonomische Denken zu einem zentralen Bestandteil der US-Außenwirtschaftspolitik geworden.
Trump, heißt es an einer Stelle in Ihrem Buch, sei „geradezu besessen“ vom Handelsdefizit Amerikas und konzentriere sich deshalb auf Zölle“. Woher rührt diese Besessenheit?
Woher stammt diese Obsession? Zum einen haben Trump und seine Administration eben ein sehr krudes Verständnis von wirtschaftlichem Austausch. Zum anderen aber reagieren sie damit auf das Trauma der Deindustrialisierung. Die Industrie hat in Amerika eine politische Bedeutung, die weit über ihren Anteil an der amerikanischen Wirtschaftsleistung hinausgeht: Die amerikanische Industrie ist sehr stark mit der amerikanischen Identität verknüpft.
Sie zitieren in Ihrem Buch eine US-Studie, laut der das Handelsdefizit mit China zwischen 2001 und 2018 etwa 3,7 Millionen amerikanische Jobs vernichtet hat, drei Viertel davon in der Industrie. Es scheint, als könnten Studien wie diese Trumps Besessenheit erklären.
Dass die wirtschaftliche Konkurrenz mit China Arbeitsplätze in den USA gekostet hat, darin stimmen die meisten Ökonomen überein. Umstritten ist allerdings, ob nicht andere Faktoren, insbesondere der technologische Wandel, in viel stärkerem Maße Industriearbeitsplätze gekostet haben. So sind Arbeitsplätze auch in Marktsegmenten verloren gegangen, in denen es gar keine Konkurrenz aus China gab. Aber das sind letztendlich akademische Fragen. Und die Trump-Administration hat nun wirklich nicht viel Respekt vor der Wissenschaft. Sie richtet sich danach, dass China eben von einer breiten Mehrheit für die wirtschaftlichen Probleme verantwortlich gemacht wird. Unfaire Handelspraktiken der Chinesen haben die amerikanische Mittelklasse ausgehöhlt, diese Annahme wird in den USA breit geteilt.
Und auf das stützt sich Trump mit seiner „Make America Great Again“-Politik?
Ja, darauf stützt er sich. Mit hohen Zöllen und wirtschaftlichem Druck soll nun eine Reindustrialisierung Amerikas herbeigeführt und das verarbeitende Gewerbe wieder in die USA zurückgeholt werden. Von ökonomischen Ratschlägen, die seiner Sichtweise nicht entsprechen, lässt sich Trump gewiss nicht beeinflussen. Populistische Politiker stützen sich ja immer sehr selektiv auf Studien und Fakten, die das eigene Weltbild unterstreichen.
Ist Trumps Unberechenbarkeit eigentlich das einzig Berechenbare an ihm?
Es gibt auch berechenbare Elemente in seiner Politik. Es herrscht beispielsweise das Primat des eigenen Machtausbaus. Trump macht das, was ihm, einem potenziellen Nachfolger und der MAGA-Bewegung nutzt. Ein weiterer berechenbarer Faktor bei ihm ist der Primat der Innenpolitik. Außen- und Sicherheitspolitik sind für Trump immer nachgeordnet. Da handelt er sehr stark nach Opportunitäten und auch nach seiner eigenen Aufmerksamkeitsspanne. Und das ist aus europäischer Perspektive das eigentlich Unberechenbare an Trump.
Sie sagen: Um zu verstehen, was die USA heute sind und was Trump antreibt, sei es eminent wichtig, einen Blick auf die politische Polarisierung in den USA zu werfen. Warum?
Weil erst die massive politische Polarisierung und die damit verbundene gegenseitige Abneigung – bis hin zu offenem Hass – zwischen Republikanern und Demokraten den Aufstieg Trumps und der MAGA-Bewegung möglich gemacht haben. Mit Newt Gingrichs republikanischer Revolution begannen Republikaner in der ersten Hälfte der 1990er damit, Ressentiments gegenüber dem anderen, das heißt progressiven Lager zu schüren. Über die Jahre hinweg wurde die parteipolitische Spaltung immer mehr auch zu einer tiefen gesellschaftlichen Spaltung. Es entwickelten sich zunehmend getrennte Lebenswelten. Und je stärker sich Demokraten und Republikaner nicht mehr nur als politische Gegner, sondern als gegenseitige Hassobjekte betrachteten, desto stärker wurde von beiden politischen Lagern auch ein politischer Machtwechsel als existenzielle Bedrohung wahrgenommen. Und das hat Trump genutzt. Er bespielte die vorhandenen Ressentiments, er diente dem eigenen Lager als Projektionsfläche, er gab den Republikanern die Aussicht darauf, dass sie die Wahlen gewinnen und dass sie sich mit ihrem eigenen Gesellschaftsbild behaupten können.
Das heißt, Trump ist Ausdruck und Ausführer dieses gewachsenen gegenseitigen Hasses?
Ja. Erst die massive politische und gesellschaftliche Spaltung, in deren Folge sich jeweils auch eigene Medienblasen bildeten, machten es möglich, dass Trump und sein Umfeld auf einmal von alternativen Fakten reden und alles in Abrede stellen konnten, was von der Gegenseite gesagt wurde. Erst in diesem polarisierten Umfeld konnte Trump seinen eigenen politischen Mikrokosmos schaffen. Wenn sich alle nur noch gegenseitig misstrauen, ist es leicht, diese Spaltung auszunutzen, und den Gegner als Feind darzustellen, und sich selbst als eine Art Heilsbringer. Und das ist genau das, was Trump ja auch getan hat.
Noch eines: In Medien mehrten sich zuletzt Spekulationen, wonach Trump seine doch recht bizarren Zollsätze von einer KI habe errechnen lassen. Ist so etwas glaubhaft?
… (Pause) Es wurde viel darüber gerätselt, wie diese reziproken Zölle, die Trump im April beim sogenannten Liberation Day verkündet hat, zustande gekommen sind. Die meisten Wirtschaftswissenschaftler, die ich dazu gelesen und gehört habe, haben Schwierigkeiten, das rational nachzuvollziehen. Insofern ist das sicherlich möglich.
Ziehen wir ein Fazit aus europäischer Sicht. Was ist Europas Option, was ist Europas Zukunft?
Wir müssen die transatlantischen Beziehungen neu denken. Im Grunde genommen müssen wir uns fragen, ob die Grundannahmen, die wir von den transatlantischen Beziehungen früher hatten, heute noch gültig sind. Ist die Abhängigkeit von Amerika, vor allem die sicherheitspolitische Abhängigkeit, wirklich unabänderlich? Liegt es überhaupt noch im Eigeninteresse der USA, sich dauerhaft in Europa zu engagieren? Können wir die transatlantischen Beziehungen stabilisieren, indem wir lediglich mehr US-amerikanische Produkte kaufen? Hinterfragt man die alten Annahmen, dann lassen sich daraus auch konkrete Maßnahmen ableiten. Wenn ich mir als Beispiel allerdings den neuen Koalitionsvertrag der deutschen Bundesregierung anschaue, dann sehe ich, dass da noch sehr viel altes Denken vorhanden ist. Zumindest die außenpolitischen Kapitel lesen sich für mich ein wenig so, als hätte es die vergangenen drei Jahre gar nicht gegeben. Mir fehlt der Mentalitätswandel, den wir brauchen, um unsere Beziehungen zu den USA auf eine neue, stabile Grundlage zu stellen. Denn letztendlich müssen wir Europäer vor allem eines tun: Eigeninteressen und Eigenständigkeit entwickeln.
Vielen Dank für das Gespräch!
Marco Overhaus (*1975) ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Amerika der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Der Politikwissenschaftler forscht seit Jahren zur Außen- und Sicherheitspolitik der USA. Overhaus hatte zuvor auch im Planungsstab des deutschen Auswärtigen Amts sowie für den Think Tank „RAND Corporation“ in Washington D.C. und für das Französische Institut für internationale Beziehungen in Paris gearbeitet.
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