Gerald A. Matt

Kunstmanager, Publizist und Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien

Hommage an einen Vergessenen Rudolf Wacker im Leopold Museum

Dezember 2024

Gerald A. Matt besuchte die Wacker Ausstellung „Magie und Abgründe der Wirklichkeit“ im Leopold Museum, die noch bis zum 16. Februar 2025 zu sehen ist.

Im Wiener Leopold Museum wurde vor kurzem die Ausstellung Rudolf Wacker „Magie und Abgründe der Wirklichkeit“ eröffnet. Die FAZ zeigte sich unter dem Titel „Glätte gegen innere Zerstörtheit“ von der ersten großen Retrospektive des Ausnahmekünstlers und dessen „bannender Präsenz“ überwältigt: „Der Maler Rudolf Wacker war das Puzzleteil, das bislang im großen Bild der Neuen Sachlichkeit fehlte … mit der Qualität seiner Arbeit kann die Vergessenheit des Vorarlbergers keinesfalls zusammenhängen, eher schon mit seinem unglücklichen Tod 1939 vor Beginn des Zweiten Weltkrieges, sodass der ohnehin unter den Nationalsozialisten schlecht Gelittene nach 1945 nur noch jenen ein Begriff war, die ihn schon zuvor gesammelt hatten.“
Und die FAZ hat Recht. Rudolf Wacker im Leopold Museum ist wohl eine der herausragendsten Ausstellungen des Jahres 2024, eine Ausstellung eines großen, aber international wenig bekannten Künstlers. Wacker wurde 1893 in Bregenz geboren und kehrte nach seiner Ausbildung bei dem damals schon berühmten Albin Egger Lienz in Weimar nach Bregenz zurück, in die Stadt, der er bis zu seinem Tode verbunden blieb.
Dennoch wird Wackers Werk in Vorarlberg leider – Rudolf Sagmeisters Bemühungen durch Ausstellung und Publikationen seien hier als löbliche Ausnahme in Erinnerung gerufen – seit Jahrzehnten ignoriert. Da bereitet das Landesmuseum (wohl in grün-alternativer Kunstskepsis) in einer „Kraut und Rübenpolitik“ die Alltagskultur und Kunst in einem gleichwertigem Mischmasch zu sogenannten „Lebenswelten“ auf – statt Vorarlberger Künstler und Künstlerinnen in respektvoller Dimension darzustellen. Deren Abspeisung mit stiefmütterlichen Ausstellungen ins Foyer des Hauses belegt diese bittere Diagnose. Und das Kunsthaus Bregenz, das nicht zuletzt gebaut wurde, um auch heimische Künstler im internationalen Kontext zu zeigen und aufzuwerten, wozu auch Vorarlbergs Kunstgeschichte zählt, gefällt sich ausschließlich als internationaler Durchlauferhitzer zeitgenössischer Kunstmarkttrends.
Doch lassen Sie mich nur auf einige faszinierende Aspekte der Präsentation Wackers und seines Werkes im Leopoldmuseum, dessen erste große und bisher letzte Wiener Nachkriegsausstellung in der Österreichischen Galerie im Belvedere vor 66 Jahren, 1958, stattfand, verweisen. Es ist die Wirklichkeit und Magie der „bescheidenen“ Dinge, die sie umgebenden Interieurs, Landschaften und Hinterhöfe, es ist der weibliche Akt, aber auch sein eigenes Porträt, die er in unnachgiebiger Wiederholung malte und immer wieder neu komponierte. 
Wacker verlieh den ihn umgebenden und auch von ihm gesammelten Objekten des Alltags eine Aura des Magisch-Geheimnisvollen, indem er seine „Fundstücke“ in surreal anmutender Weise isolierte und kombinierte. Wackers Arbeiten werden in der Ausstellung durch eine Auswahl von Referenzarbeiten unter anderem von Otto Dix, dessen Selbstporträt dem Selbstporträt Wackers wundervoll gegenübergestellt wird, Franz Lenk oder Anton Räderscheidt ergänzt, die seine einzigartige künstlerische Position im Rahmen der Neuen Sachlichkeit sichtbar machen und unterstreichen.
1928 schreibt Wacker: „Je tatsächlicher das Wirkliche ist, desto schwerer ist es von Geheimnis: Ja das Tatsächliche ist recht das Maß des Magischen. Das Objektivste macht am meisten staunen.“ Es ist nicht zuletzt die Dissonanz der aus seinen Sammlungen zu Stillleben arrangierten Objekte, die seinen Bildern eine eindrückliche Intensität verleihen.
Faszinierend sind seine rätselhaften, ja unheimlichen Puppenbilder, die – wie gute Kunst immer – sich unvergesslich in das visuelle Gedächtnis einschreiben, Bilder, die – wie die FAZ zurecht schreibt – „den Vergleich mit Kunstgrößen wie Bellmer oder Balthus nicht zu scheuen brauchen“, sind sie doch von einer berührenden Melancholie beseelt. Immer wieder taucht da das „persönliche“ Motiv einer blauen Puppe auf, die von seiner Frau Ilse gefertigt wurde. 
In seinen Stillleben vereint er Kakteen, Vasen mit Schnittblumen, Kerzen, Schachteln, zerbrochene Puppenkörper und heilige Sebastianskulpturen aus Holz zu traumhaft irritierenden Dingwelten. Seine Werke haben jedoch nichts von der kühlen-meditativen Sterilität der Münchner magisch-realistischen Schule eines Schrumpf oder Kanoldt, deren Kakteenbilder in der Ausstellung unter dem Titel „Magie der Dinge“ den Arbeiten Wackers gegenübergestellt werden, sondern verweisen auf eine beunruhigende, oft albtraumhafte verzerrte Welt, die ihren literarischen Spiegel in den von Wacker verehrten und gelesenen Autoren Schopenhauer, Nietzsche und Thomas Mann findet. 
Die Ausstellung zeigt Wacker auch als exzessiven Leser und Autor, so las Wacker allein in seiner Kriegsgefangenschaft an die 400 Bücher. Der exzessive Leser reflektierte seine Lektüre wie auch seine künstlerische Theorie und Praxis, seine Ausstellungsbesuche, sein privates Leben auch in seinen zeitlebens geführten Tagebüchern.
Ähnlich wie der düster dichtende Georg Trakl ist auch Rudolf Wacker vom Ersten Weltkrieg und seinen Gräueln gezeichnet. Nach einer mehr als fünfjährigen entbehrungsreichen Kriegsgefangenschaft in Sibirien zieht sich Wacker wieder nach Bregenz zurück. Immer wieder geben Ausblicke auf die Stadt und den Bodensee den Rahmen seiner Bilder ab. Verfallende Hinterhöfe und Häuserwinkel in Bregenz wirken wie idyllische Zeugen einer vertrauten, sich langsam auflösenden Welt. So notierte er 1932 zu seinen Arbeiten in sein Tagebuch: „Als Rest, als Vergehendes, Vergangenes … mit einer Spur von Traurigkeit im Herzen, mit etwas Spott im Kopfe, mit Sinnen, die darüber weg in die Ferne denken.“
1926 war Wacker Gründungsmitglied der Künstlervereinigung „Der Kreis“. Zu dem bekannten Schweizer Maler Adolf Dietrich, einem weiteren Mitglied von „Der Kreis“, hatte er ein freundschaftliches Verhältnis. Nach seiner erfolglosen Bewerbung für eine Professur an der Wiener Akademie unterrichtete Wacker, der 1934 – wohl Höhepunkt seiner Karriere –, zur Teilnahme an der Biennale in Venedig eingeladen wurde, Aktzeichnen an der Bregenzer Gewerbeschule. Da ihm verboten war, mit Aktmodellen offiziell zu arbeiten, engagierte er seine Modelle privat. 
Die Ausstellung zeigt Wacker aber auch als einzigartigen und unermüdlichen Zeichner. Dabei kommt seinen hoch erotischen Frauenakten, die konträr zur prüden Sexualmoral seiner Zeit stehen, besondere Bedeutung zu. 
Seine rubenshafte Frau Ilse, die er 1922 heiratete und mit der er zeitweise auch in Berlin lebte, stellt sein Lieblingsmodell dar. Bemerkenswert auch das Aktbildnis von Maria Klimesch, die Geliebte seines besten Freundes, deren Brustwarzen kleinen Raketen gleich aus ihrem Korsett dem Betrachter entgegenschießen.
Wackers Selbstbildnis mit Rasierschaum sagt viel über das Selbstverständnis des Künstlers aus, das Gesicht weiß eingeseift, die Augen wie geschminkt rot unterlaufen, die an einen Harlekin erinnernde Kopfbedeckung, die Körperhaltung müde und resigniert. Wacker sitzt in dunkelblauem Gewand vor einem Spiegel, der die Perspektive des Betrachters einnimmt. Vor ihm auf rot gedecktem Tisch sehen wir ein geöffnetes Rasiermesser, eine erloschene Kerze und Schnittblumen in einer verzierten Vase. 
Hinter ihm an der Wand ein kleines Bild, das einen Kasperl, eine Figur, die immer wieder in seinen Arbeiten auftaucht, mit Prinzessin zeigt. Der Künstler präsentiert sich als desillusionierter Clown, eine traurige Figur, die auch Edward Hopper wählte, um sich auf einer Bühne verneigend von seinem Publikum zu verabschieden. Der Narr hat seine Schuldigkeit getan, könnte der Titel des melancholischen Bildes auch lauten. Verschobene expressive Perspektiven und kräftige Farben unterstreichen eine Atmosphäre, die an Becketts „Warten auf Godot“ erinnert. Wie auch auf anderen von Wackers Arbeiten scheint die Welt aus dem Leim zu gehen. Da verschieben sich in seinem Selbstporträt Wände, Böden und Objekte ineinander, da lauert, unter den akribisch gemalten, oft „überrealistisch“ gemalten Oberflächen und Objekten, der Irrsinn einer gewalttrunkenen Zeit. 
In seinem Werk „Zerbrochener Puppenkopf“, 1932, wird die Wirklichkeit zum Albtraum verzerrt, eine Puppe starrt mit geöffnetem Schädel, gehirnlos mit toten Augen ins Leere. Wackers Stillleben nähern sich in seinen letzten Jahren immer mehr Vanitas Motiven an, die Hintergründe werden dunkel, schwarz, Schmetterlinge auf Blumenbouquets aufgespießt, Giftpilze künden von Moder und Verfall.
1933 malt er sein „Stillleben mit Stechpalme und Kasperl“. Zu sehen sind eine aufblasbare Kasperlpuppe, die seinem Sohn Romedius geschenkt worden war, ein gelber und schwarzer Vogel und eine gefährlich in die Nähe der Puppe gerückte Stechpalme, vier Objekte in fragilen gefährdeten Gleichgewicht, auch ein Sinnbild einer politisch zunehmend destabilisierten Welt.
1937 malt er ein Aquarium, das gleichsam einem gläsernen Gefängnis gleichend, einen trostlosen Ausblick auf eine düstere Zukunft eröffnet.
1937 wurde ein expressionistisches Selbstbildnis von Rudolf Wacker im Museum der Stadt Ulm als „entartete Kunst“ beschlagnahmt und zerstört.
Auch wenn er in seinen Werken weder offensiv gesellschaftskritisch oder politisch wie etwa Otto Dix oder George Grosz agierte, so widersetzte er sich mit seinen sinnlichen dem Frauenideal des faschistischen Zeitgeistes widersprechenden expressiven Frauenakten und den von Tod und Zerstörung kündenden Puppenporträts der Nazi-Kunstdoktrin.
Arbeiten, mit denen er, wie er in seinem Tagebuch notiert, „das Spiel noch verborgener treiben und umso wirksamer bleiben wollte.“
Nach der Okkupation Österreichs durch Nazideutschland wurde Wacker auch immer wieder als Sympathisant von Kommunisten unter Verdacht gestellt, gehörten zu seinem Freundeskreis doch Intellektuelle und entschiedene Gegner der Nazis wie der Kommunist und Politiker Max Haller und Robert Götzger, die er auch mehrfach porträtierte. Wacker stellte sich auch gegen die Kulturpolitik der Nazis. Nach dem Besuch der Nazi Ausstellung „entartete Kunst“ in München ruft er erfolglos Secession und Künstlerbund zum Protest auf. Nach einer Friedenskundgebung, an der er teilnahm, wurde er von der Gestapo aufgesucht. Nach einer Hausdurchsuchung und einem Verhör durch die Gestapo erleidet Wacker zwei Herzinfarkte und stirbt im Alter von 46 Jahren in seinem Elternhaus in Bregenz.
Die herausragende Wackerausstellung im Leopold Museum zeigt schmerzhaft das Fehlen einer Vorarlberger Landesgalerie auf, deren Aufgabe es auch wäre, die Vorarlberger Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts aufzuarbeiten, aber auch Vorarlberger Künstler in relevanten größeren Ausstellungen den Vorarlbergern und Vorarlbergerinnen, aber auch interessierten Touristen, die mehr über Vorarlbergs Kunst und Kultur erfahren wollen, zu präsentieren. 
Es ist nicht zuletzt ein Versäumnis der Vorarlberger Kunstinstitutionen, aber noch mehr der Vorarlberger Kulturpolitik, wenn Spitzenkünstler wie Rudolf Wacker unter der Kategorie „vergessen“ firmieren. Zu dessen Wiederentdeckung bedurfte es einer Wiener Handreichung. Ich darf Ihnen eine Reise nach Wien und einen Besuch des Leopold Museums ans Herz legen.

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