Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Wahrheit kann nicht verordnet werden“

Juli 2025

In seiner Streitschrift „Desinformiere Dich!“ warnt der deutsche Publizist und Dozent Jakob Schirrmacher vor einem mittlerweile inflationär gebrauchten Begriff. Wer heute diskursive Oberhand gewinnen will, braucht keine Gegenargumente mehr – es reicht, dem Gegner Desinformation vorzuwerfen. Schirrmacher sagt auch: „Wahrheit ist nicht ewig. Wer versucht, sie zu fixieren, macht sie schlussendlich zur Ideologie.“

Herr Schirrmacher, Sie nennen Ihr Buch „Desinformiere Dich!“ einen Weckruf. Warum? 
Warum? Weil sich ein gefährlich stillgestellter Diskurs zur neuen Normalität verfestigt hat. Der Begriff Desinformation hat sich in Windeseile von einer analytischen Kategorie aus dem Kalten Krieg zu einer kulturellen Alarmglocke entwickelt – einer Alarmglocke, die immer dann schrillt, wenn das Unerwartete, das Unbequeme oder das Nichteingepasste erscheint. Was ursprünglich Schutz vor Lüge war, ist heute Mittel der Diskursordnung geworden. Mein Buchtitel „Desinformiere Dich!“ ist gewiss kein Aufruf zum Lügen, er ist als Störung der Passivität zu verstehen, die wir heutzutage erleben. Denn ein Großteil vor allem der öffentlichen Kommunikation funktioniert längst über betreute Meinungsbildung, kuratierte Informationen und vorgedachte Bewertungen. Wobei das Wort Desinformation zu einem Containerbegriff geworden ist, der von allen politischen Seiten für ihre Zwecke missbraucht werden kann. Der Begriff wird derart leichtfertig genutzt, er ist derart semantisch aufgeweitet, dass wir gar nicht mehr wissen, was er eigentlich meint. 

Sie zitieren in diesem Zusammenhang aus Elias Canettis „Masse und Macht“ …
‚Wenn ein Begriff zu viele Deutungsvarianten hat, kann er politisch umso leichter instrumentalisiert werden.‘ Canetti hat sehr hellsichtig beschrieben, wie sprachliche Unschärfe zur Voraussetzung von Herrschaft wird. Ein Begriff, der zu viele Deutungsvarianten zulässt, wird gerade wegen seiner Unbestimmtheit politisch anschlussfähig. Desinformation ist zu einem Kampfbegriff geworden. Man muss Abweichendem, Unerwünschtem, Zweifelhaftem heute nicht mehr mit Gegenargumenten begegnen. Es reicht, dem Absender Desinformation vorzuwerfen, um die diskursive Oberhand zu gewinnen. Ich finde das problematisch.

Sie sagen, dass Abweichendes sofort als Desinformation abqualifiziert wird. Aber: Wer entscheidet eigentlich, was Desinformation ist?
Es ist erschreckend, dass diese zentrale Frage nur sehr selten gestellt wird. Wir leben in einem Zeitalter, in dem es primär um Deutungshoheit geht. Wer die Interpretationsmacht hält über das, was als Desinformation zu gelten hat, hält letztlich auch die Kontrolle über Wahrheit. Das gilt für alle Staatsformen, ob das nun Demokratien sind oder autoritäre Staaten. Wenn nicht mehr der öffentliche Diskurs, sondern externe Instanzen wie Plattformen, Regierungen, Staaten oder staatlich finanzierte Faktenprüfer entscheiden, was als wahr zu gelten hat und was als Desinformation, dann verabschiedet sich die demokratische Öffentlichkeit von einer ihrer Kernelemente, der offenen Aushandlung.

Und der als zulässig erachtete Meinungskorridor wird enger und enger.
Genau. Der Meinungskorridor ist in den vergangenen Jahren messbar enger geworden. Die Menschen haben zunehmend dieses Gefühl, dass irgendetwas nicht mehr stimmt, dass sie nicht mehr das sagen können, was sie eigentlich sagen wollen. Was außerhalb bestimmter diskursiver Linien liegt, wird heute nicht mehr nur als falsch, sondern auch als gefährlich markiert, als rechts oder teilweise gar als rechtsextrem. Der Begriff Desinformation ist zur Legitimations-Formel geworden, um Abweichung regelrecht zu pathologisieren. 

Und doch muss man den Menschen und die Gesellschaft vor Lügen und der zersetzenden Kraft von Propaganda schützen.
Absolut. Doch was vorderhand plausibel klingt, ist letztlich gefährlich. Denn wer schützt uns denn davor, dass der Schutz nicht zur Zensur wird? Zur rigiden Kontrolle ist es letztlich nur noch ein kleiner Schritt. In der scheinbar wohlmeinenden Absicht, Lügen zu bekämpfen, steckt oft ein tieferes, ein finsteres Verlangen nach Kontrolle. Die Geschichte lehrt uns, dass die Berufung auf Wahrheit immer auch ein Machtinstrument war. Dass es Propaganda gibt, steht außer Frage. Aber wie gehen wir damit um, ohne die Fundamente der Gesellschaft zu untergraben?

Wie lautet die Antwort? Wie lautet: Ihre Antwort?
Wer Propaganda mit repressiver Gegensteuerung beantwortet, spielt ihr eigentlich in die Hände. Der Versuch, Propaganda durch administrative Maßnahmen zu eliminieren, wird fast zwangsläufig zur Diskurspolitik von oben. Und deswegen ist die Antwort auf die Lüge nicht die Wahrheit von oben, sondern der Diskurs von unten. Der Versuch, das Schlechte mit dem Ausschlussprinzip zu bekämpfen, untergräbt die intellektuelle Selbstwirksamkeit der Gesellschaft. Die Antwort kann also nicht darin liegen, Deutungsmacht zu zentralisieren. Sie muss darin bestehen, Urteilskraft zu dezentralisieren. Und Widerspruch zuzulassen. Wir brauchen ein öffentliches Klima, das Ambivalenz zulässt. Wir sollten den Menschen weniger misstrauen, sondern ihrer Urteilskraft mehr vertrauen. Und wir sollten zurück zu unseren liberalen Wurzeln.

Apropos. Sie sagen, dass vieles von dem, was heute als Desinformation gilt, weit vor dem digitalen Zeitalter wurzelt. 
Es entlarvt die Hybris des modernen Denkens, wenn wir meinen, erst die digitale Gegenwart habe Desinformation zum Problem gemacht. Bereits Julius Cäsar hatte seine Kommentare zum Gallischen Krieg als Propagandaschrift verfasst, um sich selbst als unfehlbaren Kriegsherren und Herrscher darzustellen; über Jahrhunderte hinweg nutzten Mächtige, nutzten Könige und auch die Kirche Methodiken der Irreführung, um ihre Macht zu sichern. Der Begriff selbst stammt übrigens aus dem Russischen, aus den Anfangszeiten der Sowjetunion. Unter der Bezeichnung ,Dezinformatsiya‘ entstand dort Anfang der 1920er-Jahre ein ausgefeiltes System politischer Irreführung. Die Sowjets inszenierten beispielsweise eine fingierte Widerstandsbewegung, um Widerstandskämpfer anzulocken und auch an die Informationen westlicher Geheimdienste zu kommen. Neu ist nur eines …

Was denn?
Dass sich dieses Machtdispositiv umgedreht hat. Was früher den Mächtigen vorbehalten war, kann heute jeder nutzen. Heute kann jeder Bürger zum Desinformanten werden, indem er im Internet falsche Tatsachenbehauptungen verbreitet.

Wenn heute alles Abweichende automatisch als Desinformation abgewertet wird, nutzt das wohl auch jenen, die gezielt falsch informieren. Die verschwinden in der Masse …
Auch das ist ein Problem. Studienautoren, aber auch Politiker und Journalisten benutzen diesen Begriff so inflationär, dass schlussendlich kaum noch wahrnehmbar ist, wo tatsächliche Desinformation stattfindet. Zudem konstruieren wir uns selbst ein Klima des Misstrauens. Die Bedrohungslage wird so exorbitant dargestellt, dass viele Bürger bereits überall Desinformation sehen. Auch deswegen sinkt das Vertrauen in die Medien.

Sie warnen vor Instanzen, die ihre Wahrheiten als einzig zulässige durchsetzen wollen. Das sei „nahe am Totalitarismus, nahe an Orwells Wahrheitsministerium“.
Aus Orwells Wahrheitsministerium hat sich eine dezentral organisierte, sehr fragmentierte Form der Wahrheitspflege entwickelt. Aber die ist ebenso wirksam. Beispielsweise durch Algorithmen im Internet. Der Raum des Sagbaren wird kartografiert, Unerwünschtes verschwindet nicht durch Argumente, sondern durch Ausgrenzung. Das ist kein Totalitarismus im klassischen Sinn, aber es ist eine Vorform. Und wenn wir nicht aufpassen, driften wir immer mehr in genau jene Richtung, vor der Orwell einst gewarnt hatte.

Braucht es überhaupt einen Schiedsrichter der Wahrheit? Kann es einen solchen überhaupt geben?
Sehr gute Frage. Ich glaube: Nein. Weder braucht es einen, noch kann es je einen geben. Denn ein solcher Schiedsrichter würde zu einer Instanz, die entscheidet, was wahr ist, er würde damit nicht Wahrheit, sondern Macht organisieren. Zumal Wahrheit nichts Starres ist, sondern ein Prozess. Wahrheit steht immer im Streit. Natürlich gilt dabei: Was klar gegen das Strafrecht verstößt – etwa in Form von Verleumdung, Volksverhetzung oder Aufrufen zu Gewalt – entzieht sich diesem Diskursraum. Darüber ist nicht zu verhandeln, sondern dort greifen rechtsstaatliche Mittel, nicht Debattenregeln.

Wir zitieren den Philosophen Grau an dieser Stelle: In einer endlichen Welt gibt es keine ewigen Wahrheiten.
Das ist ein sehr schöner Satz. Er legt diese Grundspannung freiheitlicher Gesellschaft offen. Wahrheit ist nicht ewig. Wer versucht, sie zu fixieren, macht sie schlussendlich zur Ideologie. Gerade deshalb ist der demokratische Diskurs so kostbar. Weil die Wahrheit eben nicht verordnet werden kann, sondern zwingend ausgehandelt werden muss.

Wer glaubt, dass wir über bloße Theorie sprechen, soll an die Pandemie zurückdenken.
Gut, dass Sie das ansprechen! In unserem gegenwärtigen Alltag mag der eine oder andere die Bedrohung eines stark eingeengten Meinungskorridors noch nicht einmal besonders bemerken. Aber was ist in Krisenzeiten? Die Meinungsfreiheit war in der Pandemie global massiv eingeschränkt worden; selbst nüchterne Analysen, die lediglich die Sinnhaftigkeit von Lockdowns und Schulschließungen hinterfragten, wurden als irreführend abgewertet. Doch Wahrheit ist ein wandelbares Wesen. Was gestern als falsch galt oder gar als Lüge, kann morgen schon eine Wahrheit sein.

Sie schließen im Buch mit einer „provokanten These“, indem Sie sagen: „Der Mensch hat ein Recht zu lügen!“ Wie ist das zu verstehen?
Wir brauchen das Recht auf Lügen. Wir sollten sie sogar verteidigen. Nicht, weil die Lüge an sich ein schützenswertes Ideal wäre, sondern weil ihr Verbot eine größere Gefahr bringt als ihr Bestehen. Die Bedrohung der Meinungsfreiheit beginnt nicht dort, wo gelogen wird, sondern dort, wo eine Instanz festlegt, was gesagt werden darf. Eine Gesellschaft, die nur noch das verordnete angebliche Wahre duldet, ist keine freie Gesellschaft mehr. Eine robuste Öffentlichkeit zeigt sich gerade darin, dass sie eben auch Unbequemes, Zweifelhaftes, Falsches aushalten kann. Meinungsfreiheit gibt es nur ganz oder gar nicht. Wenn man ihr Bedingungen auflädt, verliert sie ihren Sinn.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person
Jakob Schirrmacher
geboren in Frankfurt am Main, ist Journalist, Autor und Dozent. Er schreibt über Meinungsfreiheit, Macht und Medien in Zeiten digitaler Umbrüche. Als Dozent unterrichtet er zu Themen wie Digitalisierung, Künstlicher Intelligenz und Jugendmedienbildung.

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