Herbert Motter

Auf die Dosis kommt es an

Oktober 2014

Die Bedeutung von Normen ist unbestritten. Alles muss seine Richtigkeit haben. Was sich aber heutzutage im Bereich Normung abspielt, bleibt nicht ohne Kritik. Viel zu kompliziert ist die Beschäftigung mit den Normen inzwischen geworden, erdrückend die Last für die Anwender.

Das Positive gleich mal vorweg: Normen haben ihre Berechtigung. Ihr Nutzen in betriebs- und volkswirtschaftlicher Hinsicht wird allgemein als hoch eingestuft. Gerade im produzierenden Bereich gelten sie als gutes Regelwerk, das zur Export­erleichterung und dem Bestehen auf internationalen Märkten beiträgt. Als Sprache der Technik bieten sie Sicherheit. Und Normen dienen der Qualitätssicherung, und sie sind die Basis für die Verständigung zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung. Darüber herrscht noch Einigkeit in Fachkreisen. So weit, so gut. Anders sieht es freilich aus, wenn es um die stetig steigende Normenflut, den praxisrelevanten Nutzen und den freien Zugang zu Normen geht.

Die Normung, wie wir sie heute kennen und nutzen, ist ein Kind der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts. Warenaustausch, steigender Handel mit Industrieprodukten, die Entwicklung des Verkehrswesens und immer neuer Maschinen haben Vereinheitlichung und damit Rationalisierung sowie Standardisierung gefordert und gefördert.

Aus der ersten Norm im Jahr 1921 sind mittlerweile über 25.000 Vorgaben geworden, davon allein mehr als 6000 für den Baubereich. Jedes Jahr kommen weitere 2000 dazu.

Die „Normungswut“ drückt sich auch auch dadurch aus, dass etwa die ÖNorm B 1600 über barrierefreies Bauen seit 2003 sechs Mal novelliert wurde, außerdem ist diese Norm über die OIB-Richtlinien für verbindlich erklärt worden und hat damit die Kraft einer Verordnung. Während Verordnungen aber kostenlos bezogen werden können, entscheidet das Austrian Standards Institute selbst, wer eine Norm zu welchem Preis kaufen darf.

Das Normwesen hat sich zu einem lukrativen Geschäft entwickelt. 1980 war es noch möglich, für 4000 Schilling (rund 300 Euro) alle „ÖNormen für das gesamte Bauwesen“ zu erwerben – mittlerweile sind es über 2500 Baunormen inklusive Euronormen, wobei jährlich um die 200 neue Normen beziehungsweise Neuauflagen erscheinen. Bei einem Preis von ungefähr 100 bis 200 Euro pro Norm muss man heute also mindestens 250.000 Euro berappen, wenn man alle Baunormen haben möchte.

So wird auch immer wieder das Geschäftsmodell des Austrian Standards Institute (ASI) hinterfragt. „Wer mit der Fülle an Normen Geld verdient, der hat auch kein Interesse, die Flut einzudämmen“, kritisiert Wirtschaftskammer-Direktor Helmut Steurer. Wirtschaftliche Überlegungen für den Endverbraucher spielen, so die Kritik, keine Rolle.

Besonders unsinnig ist es, wenn eine Norm auf eine andere verweist. ÖNORM B 5371 beispielsweise regelt die Anforderungen an Treppen und verweist auf eine andere Norm (ÖNORM EN 1865, Krankentransportmittel im Krankenkraftwagen). Diese muss man dann ebenfalls kaufen, nur um zu erfahren, wie breit Krankentragen sein dürfen. Bleibt die berechtigte Frage, warum diese Zentimeterangabe nicht schon in der ersten Norm enthalten sein kann.

Doch nicht nur die Fülle macht den Ausführenden zu schaffen, auch die Detailverliebtheit mancher Normen sorgt für Kopfschütteln. „Dosis sola venenum facit“ – allein die Dosis macht das Gift – hatte schon Paracelsus festgestellt. Es sind die kleinen Unternehmen, die der Normen-Dschungel quält. Selbst für Fachleute, die sich die „Kleinen“ am allerwenigsten leisten können, ist er fast unüberblickbar.

Fallen Normen zu detailliert aus, beschränkt das die Zahl der technischen Lösungen – ein klarer Nachteil für die kleinen und mittleren Unternehmen. Oft bleibt dann nur ein Anbieter übrig.

Zwar brüsten sich die Vertreter des Normungsinstituts, heute Austrian Standards Institute, damit, dass jeder sich in die Normungsarbeit einbringen kann. Doch das ist bloße Theorie. In der Praxis fehlt es zum Beispiel den Handwerksunternehmen an Kapazitäten, personell wie finanziell. Welcher Fachbetrieb kann schon über Wochen die besten Köpfe für das bürokratische Normungsgeschehen entbehren?

Noch heftiger fällt die Kritik am Normungswesen aus juristischer Sicht aus. Seit dem Normengesetz von 1971 dürfen Normen „durch Gesetz und Verordnung für verbindlich erklärt werden.“ Damit sei das Normungsinstitut – ein privater Verein, wohlgemerkt – ein regelrechter „Geheimgesetz­geber“ geworden, der seine eigenen Regeln schaffe, erklärt Matthias Öhler, Wiener Anwalt mit Spezialgebiet Vergaberecht. „Die ÖNorm ist also eigentlich Geheimrecht: Man muss sie einhalten, um eine Baubewilligung zu bekommen, man bekommt sie aber nur, wenn man das Normungsinstitut bezahlt. Mit Rechtsstaat hat das nichts zu tun“, so Öhler.

Zu oft fehle vor Festlegung der Norm die Frage nach dem Nutzen und in weiterer Folge die Klärung der Folgekosten auch im volkswirtschaftlichen Sinn. Eine solche Überprüfung sowie einen freien und kostenlosen Zugang zu verbindlichen Normen fordert die Wirtschaftskammer. Entscheidungen über die Zulassung von Normungsvorhaben müssen einer solchen Prüfung standhalten und sollten nur mit  Zustimmung der betroffenen Wirtschaftsbranche getroffen werden. Dies ist in anderen Ländern wie Deutschland, Belgien oder Dänemark längst Usus. Und nicht selten kommt es vor, dass eine Norm in ihrer Praxistauglichkeit völlig versagt. Somit beginnt das Spiel von vorn – eine neue Norm muss her. Die Fülle bleibt, die Kosten auch.

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