Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Big Tech: big problem?

Oktober 2018

Anfang August durchstieß erstmals der Börsenwert des Technologiekonzerns Apple die magische Billionen-Marke (eine Billion sind 1000 Milliarden Dollar, entsprechend etwa 860 Milliarden Euro). Mit diesem Triumph blieb Apple nicht lange allein: Auch die nächsten Digitalriesen Alphabet (Google) und Amazon traten knapp danach in den exklusiven Club ein. Zwar haben seither die Kurse ein wenig nachgegeben: doch gehören dieser Spitzengruppe nun bereits sechs amerikanische IT-Giganten, nämlich auch Microsoft und, etwas dahinter, Facebook und Tencent an. Erst dann kommen Riesenunternehmen mit Schwerpunkt außerhalb der Technologiewelt (Berkshire-Beteiligungen, Öl, Pharma) sowie Unternehmen außerhalb der USA, nämlich Staatsunternehmen in China). Europa zeigt sich an den Börsen weit abgeschlagen, speziell im Technologiebereich.

Eine Reihe von Fragen drängt sich auf: Handelt es sich um den Effekt einer spekulativen Euphorie der Börsen? Oder wird die moderne Wirtschaft und zunehmend auch die Politik nun von Tech-Giganten beherrscht? Was bedeutet die Gigantomanie für viel kleiner dimensionierte Unternehmen, was für die Arbeitsplätze? Wie soll, wie kann die Politik darauf reagieren? Sollen oder müssen wir uns darauf einstellen, alle Probleme und Bedürfnisse technologisch zu lösen? Welchen Sinn ergibt eine Zukunft, die sich hier abzuzeichnen beginnt? 

Ich erinnere mich an die Schlagzeilen in den Medien knapp vor der Jahrhundertwende. Ich meine nicht die damalige Aufregung, die Computer würden abstürzen, weil sie mit dem ungewohnten Datum eines neuen Jahrtausends nicht zurechtkommen könnten. Ich meine die „irrationale Euphorie“, wie das Robert Shiller bezeichnete: die „new technologies“ hätten die beherrschenden wirtschaftspolitischen Probleme, die das zu Ende gehende Jahrhundert beherrscht haben (Inflation, Arbeitslosigkeit, Stagnation) überwunden. Die Politik könnte sich nun mit Erfreulicherem beschäftigen. Aber gleich darauf, im März 2000, stürzte die überhitzte Technologiebörse Dot.com in wenigen Tagen auf die Hälfte oder darunter ab und dann noch in den folgenden drei Jahren auf das Niveau, von dem es drei Jahre vor 2000 ausgegangen war. 
BigTech2018 ist nicht DotCom2000. Da ich selbst keine Aktien der fraglichen Unternehmen besitze, erspare ich mir auch Sorgen, sie könnten demnächst abstürzen. 

Viel wichtiger schon die Frage: Was könnte ein Zeitalter der Weltbeherrschung durch die smarte neue Welt im Silicon Valley für die Politik bedeuten? Ich frage nicht die österreichische Politik, denn die ist mit dem „Anlanden“ von Flüchtlingen, mit Kopftüchern und Polizeipferden beschäftigt. Ich meine die europäische (soweit sie nicht durch die gleichen Fragen abgelenkt ist): Wie begegnet sie den neuen Monopolen und den Eintrittsbarrieren? Wie verhindert sie nicht nur Marktmacht, sondern Medienmacht, politische Einflussnahme und Fake-News? Schließlich: Was tun gegen Datenmissbrauch und anachronistischen IT-Unterricht in den Schulen?

Landauf, landab rufen die Größen des Consulting Business – bei der Eröffnung der Industriemesse in Hannover, im Schnee von Davos und auf den Almwiesen von Alpbach – den Anbruch des Zeitalters von Industrie 4.0 aus, des „Internets der Dinge“ oder gleich den Eintritt in eine Lebens- und Wirtschaftswelt, in der (fast) nichts mehr gilt, was wir bisher dachten. Und dafür wäre dringend zu empfehlen, den Rat der Experten in Anspruch zu nehmen. 

Auch wenn der Wert eines Unternehmens um sieben oder acht Nullen kleiner ist als der von Amazon, spricht nichts dagegen, neue digitale Technologien zu nutzen, das gespeicherte Wissen der Welt im Internet abzurufen und neue „Kombinationen“ (nennt das J. A. Schumpeter) zu ersinnen. Unternehmertum basiert darauf, jemandes Probleme oder Bedürfnisse besser zu befriedigen, als er es selber kann. Und Probleme werden durch digitale Technologie und künstliche Intelligenz ja nicht abgeschafft. Eher nehmen ihre Zahl und Vielfalt weiter zu. 
Eine Tageszeitung präsentierte unlängst fünf Unternehmer-Persönlichkeiten. Allesamt Handwerker: eine Ofenkeramikerin, einen Hornkammmacher, eine Tapezierermeisterin für antike Sitzmöbel, einen Korb- und Sesselflechter und eine Patissière (aus Vorarlberg). Gewiss: Luxusprodukte. Gewiss aber auch: Sie alle haben lange Wartelisten für Auftragsannahme oder Wartezeiten im Verkauf. Das gleiche Bild bei der Ausstellung über seltene Leinenweben am Rand der Schubertiade in Schwarzenberg. Der Andrang sei riesig. 

Natürlich kann nur ein kleiner Teil der Vielfalt der heutigen Wirtschaftsstruktur in Marktnischen Schutz vor Amazon suchen. Der größere Teil ist mit einer historischen Zeitenwende konfrontiert, die nicht allein faszinierende technologische Entwicklungen bringt, sondern auch akute Probleme des Klimas, der Umwelt, der Alterung und der globalen Politik. Diesem unüberschaubaren Bündel an Herausforderungen zu begegnen, können manche technologischen Innovationen durchaus hilfreich sein. Nur sollte nicht erwartet werden, dass die Silicon-Valley-Giganten mit der Auswertung gewaltiger Datenmengen und dem Einsatz neuer Algorithmen schon die Lösungen bieten werden: „Gegeben genug Apps, und die Probleme der Menschheit werden zum Verschwinden gebracht. Um alles zu retten, muss man nur auf diese Taste hier drücken“ spottet Evgeny Morozov, einer der Häretiker des Glaubens an BigData. 
Die Philosophie des „Solutionismus“, wie das Morozov nennt, könnte fatale Folgen haben, wenn uns dabei zutiefst menschliche „Schwächen“ wie Hausverstand, Mitgefühl, Fantasie, Unberechenbarkeit, Freiheit und Individualität abgewöhnt werden.

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