Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Europas stotternder Wirtschaftsmotor

Oktober 2014

Wieder nicht. Die Wirtschaftsforscher haben den pro­gnostizierten Aufschwung abgeblasen – wie schon öfters in den vergangenen Jahren. Wann kommt er wirklich? Wird er überhaupt kommen? Einhellige Antwort namhafter Ökonomen: nicht in absehbarer Zeit. Daher also: „säkulare Stagnation“? Als Alvin Hansen – im Jahr 1938 – eine Zukunft ohne Aufschwung verkündete und sie so bezeichnete, hatte der Aufschwung gerade eingesetzt, Hansen wusste es nur noch nicht. Seine Prognose war gänzlich falsch. Alle Sorgen bezüglich einer drohenden Stagnation waren unnötig: Die Vorbereitungen für einen Krieg hatten die Wirtschaft in Schwung gebracht. Brauchen wir erneut erst eine Weltkatastrophe zum Ankurbeln?

Wachsende Ungleichheit

Seit 2008 stottert der Wirtschaftsmotor in den hoch entwickelten Ländern, besonders in Europa. In der Eurozone hat das Sozialprodukt das Vorkrisenniveau noch nicht wieder erreicht. Preisbereinigt liegt es um 1000 Milliarden Euro unter dem Wert, den der frühere Wachstumstrend für 2014 erwarten ließ. Über sieben Jahre kumuliert ging bis heute ein Mehrfaches dieses Betrags an wirtschaftlicher Wertschöpfung verloren. Die Mehrheit der Europäer hat an Einkommen und Vermögen eingebüßt – jedenfalls gemessen daran, was sie erwartet hätten. Millionen Arbeitsplätze gingen verloren, Pensionen und Sparguthaben schwinden. Ältere Jahrgänge bangen um die Altersversorgung, die jüngere Generation sieht ihre Lebensperspektiven beschädigt. Aber nicht alle sind gleich betroffen: Da gibt es einmal die Schicht der Pragmatisierten und der Quasi-Pragmatisierten. Aber die ist schon kleiner als früher und hat auch schon schockierende Nachrichten gehört. Und dann gibt es eine schmale Oberschicht, die hat nichts eingebüßt, sondern in der Krise an Einkommen und Vermögen enorm hinzugewonnen. Dem Zusammenhalt der Gesellschaft und dem Vertrauen in die Politik tut die wachsende Ungleichheit aber nicht gut. Das europäische Modell wirkt kraftlos und fasziniert nicht mehr. Der Süden und Osten Europas sind zurückgeworfen, auch im Westen wirken einige kränklich und nur wenige kraftvoll. Große Schwellenländer vermochten drückende Not abzuschütteln. Die europäische Landkarte zeigt Regionen, die aufleben, andere fallen zurück oder sind schon bankrott. In anderen wiederum kann man verwundert gefragt werden: „Von welcher Krise sprecht ihr eigentlich?“ Die Jugend hat Englisch gelernt. Weltstädte ziehen an, „Provinz“ entspricht offenbar weniger dem Lebensgefühl des 21. Jahrhunderts. Die Krise differenziert: Sie schichtet um, sie trifft die Schwachen und begünstigt jene, die den neuen Anforderungen gewachsen sind: alles Symptome eines wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Umbruchs.

Kurzfristiges Löcherstopfen

Wer klammheimlich Genugtuung darüber empfindet, dass die Wachstumskarawane stecken geblieben ist, sollte nicht triumphieren. Die Stagnation bringt bisher wenig für Nachhaltigkeit, Umwelt und Klima. Im Gegenteil: Enge der Staatsfinanzen und Sorgen um die Beschäftigung bewirken kurzfristiges Löcherstopfen. Für epochale Aufgaben scheint da kaum Spielraum vorhanden zu sein. Vor Kurzem setzten sich internationale Spitzenökonomen mit Fakten, Ursachen und Therapien einer „säkularen Stagnation“ auseinander. Sie nehmen die Phänomene sehr ernst. Die Krise sei jedenfalls mehr als Katzenjammer nach einer großen Finanzkrise. Keiner erwartet ihr baldiges Ende. Natürlich sind die
Antworten spekulativ. Und wie zu erwarten, gehen die Ansichten der Ökonomen weit auseinander. Einige sehen die Gefahr, dass die Krise chronisch wird: mangelnde Investitionen, Jugendarbeitslosigkeit, Verschuldung, Widerstände gegen Reformen erschweren ihre Überwindung. Einige wollen nachweisen, dass der technische Fortschritt nachgelassen hätte. Er diene noch der Befriedigung des Spieltriebs und der Freizeitgestaltung, aber nicht einer höheren Produktivität. Optimisten nehmen – ganz im Gegensatz dazu – an, die hoch entwickelten Länder befänden sich in der Frühphase eines neuen Zeitalters, in dem der Nutzen der neuen Technologien – Computer-Intelligenz, Bio-, Gen- und Nanotechnik – erst erlernt, verknüpft und ausgeschöpft werden müsse. Historische Erfahrungen mit solchen Vorgängen gibt es. Auch bei der Elektrifizierung war es so. Zeitgemäß gibt man den greifbar werdenden Potenzialen das coole Label „Industry 4.0“.

Starker Gegenwind

Einige große Namen der Ökonomie kaprizieren sich auf monokausale Erklärungen der Krise: Der Realzins sei gesunken, sei sogar negativ, die Geldpolitik sei in eine Liquiditätsfalle geraten und könne nichts bewirken, da der Fiskus massive Impulse nicht riskieren könne. Da ist was dran. Man fühlt sich an die frühe Krebsforschung erinnert: Maligne Gewächse würden durch Viren, Vererbung oder zelluläre chemische Reaktionen, daneben durch Umwelteinflüsse, Gifte und falsche Ernährung und Lebensweise ausgelöst. Heute sieht die Medizin ein, dass alternative Hypothesen einander nicht ausschließen müssen: Ursache und Wirkung sind schwer auseinanderzuhalten, sie können komplex zusammenwirken; dies erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung. Ähnlich beim Thema „säkulare Stagnation“: Einige Ökonomen sind wenigstens nicht so verbohrt, dass sie außerökonomische Konstellationen ausklammern. Starker Gegenwind bremse in der Gegenwart und auf absehbare Zeit die wirtschaftliche Dynamik: die Alterung der Bevölkerung, ein unzeitgemäßes Bildungssystem, verschärfte soziale Ungleichheit und die hohen Staatsschulden.

Altes Modell hat ausgedient

Wir sollten wohl weiterdenken: Die krisenhafte Wirtschaftslage könnte eine Phase in einer soziokulturellen Zeitenwende signalisieren. Das alte Modell des materiellen Fortschritts findet längst nicht mehr allgemeine Zustimmung, die Kommerzkultur erscheint (hoffentlich) immer mehr perspektivlos. Irgend­etwas fehlt. Aber für eine engagierte Kursänderung erscheinen die Aussichten zu unsicher und die Risken für den taktisch agierenden politischen Apparat (noch?) zu groß. Wenn Sie mich nach dem „Aufschwung“ fragen: Ich sehe ihn auch nicht. Ein Jahrhundert Stagnation („säkular“) ist sehr unwahrscheinlich, aber ein, zwei, vielleicht drei Jahrzehnte könnte es schon dauern – siehe Japan seit 1991. Nimmt man das an, dürfte die Politik ab sofort nicht mehr so weiterwursteln wie bisher. Dann genügt eine papierene Strategie wie „Europa 2020“, die sich auf technokratische oder bürokratische Machbarkeit stützt, nicht. Die fantastischen Verheißungen neuer Technologien werden den Ausweg nicht bringen. Wir müssen uns mehr um gesellschaftlichen und humanitären Fortschritt bemühen.

Der Artikel erschien in der Tageszeitung „Die Presse“. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.

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