
Krise? Welche Krise?
Die erfolgsverwöhnte deutsche Wirtschaft, Lokomotive für den Euro-Geleitzug, ist zum Stillstand gekommen. Die Arbeitslosigkeit steigt überall, Budgetziele werden unerreichbar und die Schulden sinken nicht.
Wer täglich mit diesen Meldungen zu tun hat und sich den Kopf zerbricht, ob wohl eine säkulare Stagnation angebrochen sei, erfährt jedes Mal, vor dem Arlberg angekommen: nahezu keine Spur von Malaise. Man könnte sogar meinen, die internationale Krise, die wahrlich kein Gespenst ist, habe das Land und seine Wirtschaft stärker gemacht. Angesprochen auf die Krise, erhält man regelmäßig die Antwort: „Von welcher Krise sprechen Sie?“
Matthias Horx hat grundsätzlich recht („Thema Vorarlberg“ vom September 2014, S. 12), wenn er vor unnötigem Herbeireden einer Krise warnt. Nur, was wir heute beobachten, ist schon ein anderes Kaliber. Das ist eine langfristige Trendwende. Alte Wege sind unpassierbar. Wir wissen vielleicht, wohin wir wollen. Aber wie man von hier nach dort kommt, darüber herrscht Widerspruch und tiefe Verunsicherung.
Als im Herbst 2008 die internationale Finanzwelt Chaos spielte und eine seither andauernde Stagnation auslöste, bekam die exportierende Wirtschaft Vorarlbergs natürlich einiges ab. Aber während große Teile Europas das Vor-Krisen-Niveau noch nicht wieder erreicht haben, hat sich Vorarlberg rasch erholt. Seine Wirtschaftskraft hat seither stärker zugenommen als jene der Schweiz, Deutschlands oder Österreichs. Mitte 2014 übertraf der Wert der Sachgüterproduktion in Österreich das Vorjahr nur minimal, in Vorarlberg jedoch um mehr als zehn Prozent. Das Land, eingebettet und gefordert von einer Zone der leistungsfähigsten Regionen Europas – Westösterreich, Bayern, Baden-Württemberg, Nordostschweiz, Liechtenstein – besteht diesen anspruchsvollen regionalen Wettbewerb als Spitzenreiter.
Warum wohl? Der herkömmlichen ökonomischen Analyse muss das ein Rätsel bleiben: In Vorarlberg wird nicht mehr investiert, liegt der Aufwand für Innovationen und für Forschung nicht höher, werden weniger Maturanten eingesetzt, erst recht nicht mehr Akademiker, gibt es kein Erdöl und kein Erdgas, keinen günstigeren Wechselkurs und leider auch keine niedrigeren Steuersätze. Da und dort gibt es Bahnhofstraßen, aber nicht die von Zürich.
Einen Hinweis liefert die Beobachtung, dass führende Vorarlberger Unternehmen typische Nischenproduzenten im hohen Qualitätssegment sind. Nischen werden einem nicht geliefert, die muss man suchen. Ganze Staaten wie Deutschland, wo es diesen Typus auch gibt, können nicht Nischenproduzenten sein.
Natürlich, als geborener Vorarlberger weiß man sofort, warum das Ländle so einmalig ist: Man denkt an den Körbersee, in dem sich der Widderstein spiegelt, oder an die Weite des Sees vom Bregenzer Molo aus. Auch an die von alters her gepflegte Bau- und Wohnkultur, an die imponierenden Leistungen der modernen Architektur, die nicht so sehr das Spektakuläre sucht, sondern innere, „unsichtbare“ Qualität. Und schließlich doch an die Menschen: bei denen „ja“ ein Ja ist und nicht ein „Naja“. Eine stattliche Zahl imponierender Menschen fällt einem ein, die anpacken, Wort halten, selten jammern, mit einem Wort „ghörig“ sind!
Natürlich ist vieles, was einmal war, im Fluss: Dem Autor begegneten unlängst auf dem Schulweg seiner Kindheit drei kleine Volksschüler. Er fragt sie: „Was hond’r hüt glearnt i dr Schuol?“ Die drei kichern verschmitzt, geben keine Antwort und plaudern untereinander weiter – auf Türkisch.
Einige Fragen zum vielleicht patriotisch verklärten Bild wären angebracht. Eine – die wichtigste Ressource der Zukunft, die Bildung, betreffend – sei herausgegriffen:Vorarlberg vermeidet bewusst die „Akademisierungsfalle“. Stattdessen setzt es auf höhere Berufsausbildung: auf Lehre in vielfach musterhaften Lehrbetrieben, auf einen zweiten Bildungsweg nach der Lehre, auf HTL-Abschluss oder auf die höhere Bildung von der FH. Das ist ein Modell, das jenem der Schweiz sehr ähnelt. Hochnäsige Obergscheite braucht das Modell nicht. Man darf es sich aber nicht zu einfach machen: Auch in der Schweiz ist die Zahl der Uni-Studenten geringer als im europäischen Durchschnitt, allerdings bei besonders hochwertigen Studienmöglichkeiten. Aber die Schweiz muss offenbar fehlende Akademiker – Ärzte, Ingenieure, Professoren, Forscher – in großem Stil durch Ausländer ersetzen, durch Deutsche, auch Österreicher. Das verursacht da und dort Reibereien, aber es funktioniert, dank der attraktiven Einkommen.
Der Vorarlberger Hausverstand
Der typische Vorarlberger Pragmatismus (= Hausverstand) findet im Allgemeinen rascher brauchbare Lösungen als theoretisches Tüfteln. Aber man darf Praxis und Theorie nicht gegeneinander ausspielen: Berufsorientierte Ausbildung vermittelt der Wirtschaft gut einsetzbare Fähigkeiten auf dem heutigen Stand des Know-hows. In einer Welt des Umbruchs – technologisch, gesellschaftlich, räumlich – ist es lebensnotwendig, über Lösungen für das Morgen und das Übermorgen nachzudenken. Wenn das mehr sein soll als lineares Denken, sondern quer, überraschend, ist theoretisches Rüstzeug und Grundlagenforschung gefordert, um Gegebenes infrage zu stellen.
Außerhalb des Heimatlandes sind Dutzende nicht selten international berühmte Forscher und Professoren aus Vorarlberg in der Wissenschaft tätig. Die kann man als unvermeidlichen Brain-Drain abbuchen. Viele davon sind bereit, als Botschafter, als Netzwerk für das Heimatland zu wirken, Ideen und Anstöße für die Zukunft aus ihrem Wirkungskreis hereinzubringen. Es geht nicht um Bevormundung und Besser-Wissen, sondern um kritische Auseinandersetzung mit „alten Denkmustern“ (Horx, s. o.), oder richtiger: mit den heute herrschenden. Die genügen nicht für „Zukunft wagen“.
Abschließend zur Erklärung des Rätsels: Im Ländle wird nicht mehr investiert und geforscht als anderswo – im Vergleich zur Schweiz und zu Süddeutschland sogar signifikant weniger. Das wird ausgeglichen durch einen Faktor, den die ökonomische Wissenschaft generell übersieht, weil er kaum objektiv messbar ist: eine typische, individuell und gesellschaftlich vorherrschende Mentalität der Bereitschaft zur Selbstverantwortung, zur Eigeninitiative und zur gedanklichen Autonomie, zum Selberdenken. Hier geht es weniger als anderswo um Raunzen und Warten, sondern um Besser-Machen und Anpacken. Um Unternehmen.
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