David Stadelmann

* 1982, aufgewachsen in Sibratsgfäll, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth, Fellow bei CREMA – Center for Research in Economics, Managemant and the Arts; Fellow beim Centre for Behavioural Economics, Society and Technology (BEST); Fellow beim IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues; Fellow am Ostrom Workshop (Indiana University); Mitglied des Walter-Eucken-Instituts.

 

Liebe Vorarlberger Tourismusbetriebe Jetzt kommt das Dauerreisen! Beste Grüße von W. S. Jevons

Mai 2021

Viele vermuten, auch nach der „Corona-Zeit“ würde man viel weniger reisen als davor. Zwar könnte das Reisen zu rein touristischen Zwecken dank wachsender Immunität der Bevölkerung wieder zunehmen. Spekuliert wird aber, dass Geschäftsreisen auf eher tiefem Niveau verharren. Diese Sicht ist meines Erachtens völlig falsch! Bald beginnt das Dauerreisen. Der Vorarlberger Tourismus sollte sich darauf vorbereiten. Es gibt viel zu gewinnen.

Reisebremser und Reiseförderer

Die mit Corona einhergehende Virtualisierung der Kontakte fördert das Reisen insgesamt und besonders Reisen zu geschäftlichen Zwecken. Das mag überraschen. Um dies zu verstehen, muss man sich von einer zu simplizistischen Denkweise verabschieden. Zwar musste man früher für viele geschäftliche Tätigkeiten reisen, etwa für Treffen mit Kunden und Lieferanten oder für Konferenzen. Viele dieser Treffen kann man nun bequem vom Arbeitsplatz im Unternehmen oder gar von zuhause aus via Zoom, Teams etc. erledigen. Damit senkt die Virtualisierung der Kontakte die Notwendigkeit des Reisens. Die Virtualisierung agiert als möglicher Reisebremser. 
Wer etwas weiter denkt, sieht jedoch schnell, warum diese einfache Denkweise viel zu kurz greift. Es gibt nämlich zwei gewichtige Reiseförderer und einen ultimativen Game Changer:
1. Die Virtualisierung erlaubt es Unternehmen, sich noch globaler auszurichten. Für mittlere und kleinere Firmen, spezialisierte Industrie- und einzigartige Handwerksbetriebe, die mitunter Vorarlberg ausmachen, wird es dank Virtualisierung einfacher und günstiger, global zu agieren. Die Virtualisierung verstärkt die Globalisierung, was zusätzlichen Reiseverkehr bringt. Schließlich müssen ausländische Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten doch ab und zu persönlich getroffen, betreut und gepflegt werden. Die Destination für solche Treffen sollte vorwiegend Vorarlberg sein. 
2. Derzeit ist der Wettbewerb durch die Corona-Einschränkungen gestört. Weil die internationale Konkurrenz wenig reist, muss man selbst nicht viel reisen. Sobald die Konkurrenz wieder reist, kommt der Reisedruck für alle. Der Wettbewerb zwischen Unternehmen um Kunden und Lieferanten, aber auch der Wettbewerb innerhalb der Unternehmen zwischen Abteilungen hatte schon in der Vergangenheit die Geschäftsreisen angetrieben. Mit dem Ende der Corona-Einschränkungen dürfte dieser Wettbewerb schnell wieder aufblühen.

Game Changer für Dauerreisen

Überwiegt nun insgesamt die Reisebremse wegen des sinkenden Nutzens des Reisens dank Virtualisierung oder sind Reiseförderer wie schnelle Globalisierung und Wettbewerbsdruck wichtiger? Je nach Unternehmen werden Reisebremse und -förderer unterschiedlich wirken. Gesamtvolkswirtschaftlich gibt es aber einen weiteren, bisher völlig vernachlässigten Aspekt. 
Die Virtualisierung der Kontakte senkt die Kosten aller Reisen, und das ist der wahre Game Changer. Vor der Virtualisierung waren die Kosten des Reisens neben Spesen, Transport- und Übernachtungskosten vor allem die unproduktive Reisezeit und die fehlende Anwesenheit des Mitarbeiters am Arbeitsplatz. Geschäftsreisende waren während der Reise für tägliche Arbeiten, Besprechungen, für andere Kunden, Lieferanten und Mitarbeiter nur eingeschränkt erreichbar. Das ist nun anders. Dank der Virtualisierung der Kontakte ist Reisen und gleichzeitige Anwesenheit am virtuellen Arbeitsplatz weitgehend möglich. Damit ist die Gesamtproduktivität beim Reisen ähnlich hoch wie im Home-Office oder in der Firma selbst. Selbst die Reisezeit ist viel ergiebiger nutzbar, weil man auf Flügen und Bahnfahrten mit aller Welt virtuell Kontakt pflegen kann. Wer vor Corona viel reiste, konnte das schon beobachten: Geschäftsleute waren während des Reisens dauernd vor ihren Laptops, schrieben E-Mails oder telefonierten. Mit der Virtualisierung der Kontakte ist jeder Ort mit Internet ein Arbeitsplatz im Unternehmen. Kurz: Die Kosten aller Reisen für Unternehmen sind massiv gefallen. 

Beste Grüße von W. S. Jevons

Da die Kosten aller Reisen mit der Virtualisierung fallen, dürfte die Reiseaktivität stark zunehmen. Das erstaunt manche, ist aber in der Volkswirtschaftslehre unter dem Begriff des „Jevons-Paradoxon“ bekannt. 
Der englische Ökonom und Philosoph William Stanley Jevons stellte im 19. Jahrhundert fest, dass der Kohleverbrauch in England mit der Einführung von Watts Dampfmaschine stark anstieg, obwohl diese viel effizienter war und weniger Kohle als frühere Dampfmaschinen verbrauchte. Die höhere Effizienz machten aus Kohle eine kostengünstigere Energiequelle, was zu einer steigenden Verbreitung der Dampfmaschine führte. Heute versteht man unter dem Jevons-Paradoxon, dass aufgrund technischen Fortschritts, der die effizientere Nutzung einer Ressource erlaubt, diese Ressource oft mehr genutzt wird. 
Das Jevons-Paradoxon auf das Reisen angewendet, bedeutet: Die Fortschritte der Virtualisierung und die Verbreitung der Technologie erlauben die viel effizientere Nutzung der wertvollen Ressource Arbeitszeit, die sonst beim Reisen sehr schlecht genutzt ist. Daher dürfte dank Virtualisierung der Kontakte die Zahl und die Dauer der Reisen stark zunehmen.
Nicht jeder wird der Anwendung des Jevons-Paradoxon auf das Reisen sofort trauen. Daher helfen Analogien, um den Game Changer nochmals klarer zu machen: Haben Internet und E-Mails zu weniger oder mehr Reisen geführt? Natürlich zu mehr! Dank E-Mails konnte die Reisezeit viel besser genutzt werden. Manager konnten trotz Reisen noch operativ im Unternehmen mitarbeiten. Ähnliches gilt für die Entwicklung des Telefons. Es hat zu mehr Reisen geführt, denn es erleichterte die Globalisierung von Firmen und senkte die Reisekosten für alle, weil man in der Ferne doch noch einigermaßen Kontakt mit daheim haben konnte. 
Mit der Virtualisierung der Kontakte sinken die Kosten des Reisens nochmals dramatisch. Reisende können viele der anfallenden Verpflichtungen und Arbeiten erledigen, obwohl sie gerade weit weg sind. Jetzt kommt das Dauerreisen!

Strategie für Vorarlberg

Die starken Einschränkungen im Zusammenhang mit Corona haben den Tourismus in Österreich und die mit ihm zusammenhängenden Existenzen schwer getroffen. Das zeigt sich mitunter an der geschrumpften Wirtschaftsleistung. Inwiefern sie dazu beigetragen haben, die gesundheitlichen Konsequenzen von Corona maßgeblich zu reduzieren, ist mit Blick auf andere Länder nicht unmittelbar klar. 
Was bedeutet das zukünftige Dauerreisen für den Vorarlberger Tourismus? Der Eintritt eines Szenarios mit Dauerreisen im Geschäftsbereich ist nicht unwahrscheinlich. Dabei sind neben vielen Aspekten und Details für eine Strategie für den Vorarlberger Tourismus folgende fünf Grundüberlegungen zu berücksichtigen:
1. Geschäftsreisende haben spezielle Bedürfnisse. Eine entsprechende Zimmerausstattung mit zusätzlichem Monitor oder separate Arbeitsräumlichkeiten sind wünschenswert. Das Arbeitsumfeld auf Reisen soll angenehm sein. Viele Laptop-Arbeitende sitzen gerne in einem schönen Café oder mal draußen. 
2. Mitarbeiter von Unternehmen mit Home-Office Möglichkeit sollten als dauerhaft „reisefähig“ begriffen werden. Wer ohnehin am Donnerstag und Freitag im Home-Office arbeitet, kann schon am Mittwochabend mit Familie anreisen. Donnerstag werden dann noch mehrere Hotel-Home-Office Stunden eingelegt, Freitag noch ein paar wenige. Am Wochenende werden eher die Tourismusfreuden genossen. 
3. Die Kombination von Arbeits- und Freizeit außerhalb der eigenen vier Wände ist für viele attraktiv. Eine derartige Kombination ist auch halbwegs robust gegen mögliche staatliche Einschränkungen vieler Art. Immerhin ist der Reisende hauptsächlich zu wichtigen oder dringenden Geschäftszwecken unterwegs. 
4. Das sogenannte „Networking“ wird sich noch stärker in Hotel- und Gastronomiebetriebe verlegen. Manche eigentliche Freizeitreise wird bis zu einem gewissen Grad zur Geschäftsreise. Zwar ist der Gast weiterhin der Kunde, aber Zahler wird oft das Unternehmen. Das macht differenzierte Bepreisungsoptionen für die Hotel- und Gastronomiebetriebe attraktiv. 
5. Manche Unternehmen werden ihren Mitarbeitern eine Möglichkeit des Hotel-Home-Office als eine Art Zusatz­entlohnung oder Bonus anbieten. Die Kostenübernahme von Reisen, deren Hauptgrund geschäftlich ist, dürfte für Unternehmen und Mitarbeiter interessante Optimierungsmöglichkeiten vielfältiger Art bieten, die die Tourismusbranche durch weitere Preisdifferenzierung mitunterstützen kann.
Der Vorarlberger Tourismus sollte sich zusammen mit Land und Wirtschaftskammer auf die Zeit des Dauerreisens vorbereiten. Jetzt gilt es richtig zu agieren und für die Zukunft zu planen. Das Potential ist da. Es muss nur klug genutzt werden. 

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